Europas Bürger 2. Klasse - EU sucht Rezept gegen Roma-Ausgrenzung Von Georg Ismar, dpa

16.09.2008 16:01

Brüssel (dpa) - In der Slowakei werden Roma-Kinder in Schulen für
Behinderte gesteckt und Mauern um ihre Siedlungen gebaut. In Rumänien
leben Tausende von ihnen ohne Strom, Wasser und Kanalisation. In
Italien gibt es Brandanschläge gegen Roma, und der Staat nimmt ihre
Fingerabdrücke. Kaum ein Volk in Europa hat ein so schlechtes Image.
Bis zu 50 Prozent der EU-Bürger sagen, sie fühlten sich unwohl, wenn
Roma in der Nachbarschaft lebten. Mit der bisher größten Roma-
Konferenz seit Gründung hat die EU am Dienstag das Thema auf die
politische Tagesordnung gesetzt - Patentlösungen gibt es nicht.

Brüssel, Eingang zur Passage Galeries Royal St. Hubert: Gal Vasile
zieht das Akkordeon auseinander, fordert die Passanten zum Tanz auf.
«Hey, hey, hey», ruft er, stampft mit den Füßen auf den Asphalt und
klatscht in die Hände. «Ich bin hierher geflüchtet, weil ich in
Rumänien aus Restaurants rausgeprügelt worden bin», sagt der Roma.
«Wir werden dort wie Dreck behandelt, unsere Kinder können nicht zur
Schule gehen, und Arbeit gibt es für uns nicht.» Auch 77 Prozent der
EU-Bürger meinen, dass Roma-Sein ein gesellschaftlicher Nachteil ist,
wie EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso sagt. Damit liegen
Roma in der «Diskriminierungs-Skala» nur zwei Prozent vor
Behinderten.

Eine Szene zu Beginn des Roma-«Gipfels» zeigt das ganze Dilemma
der EU bei dem Thema: Dutzende Teilnehmer halten Barroso weiße T-
Shirts entgegen, auf denen schwarze Fingerabdrücke zu sehen sind.
Damit protestieren sie gegen die erkennungsdienstliche Behandlung in
Italien. «Ich bin gegen jede Form der Stigmatisierung», gibt Barroso
den Protestlern Recht.

Nach Protesten der EU-Kommission müssen zwar in Italien lebende
Roma nur noch als letztes Mittel Fingerabdrücke abgeben - aber es
werden weiter «illegale Rassenprofile» erstellt, wie der Vorsitzende
des Open Society-Instituts, George Soros, scharf kritisiert. Die
Roma-Politik ist weitgehend Sache der Nationalstaaten. Romani Rose,
der Vorsitzende des Zentralrats der Sinti und Roma meint, dass die EU
deshalb mehr Druck machen müsse: «Die Europäische Union sanktioniert
Mitgliedsstaaten wie Bulgarien, wenn sie nicht ordnungsgemäß mit EU-
Geldern umgehen, sie sollte aber auch Strafmaßnahmen durchsetzen,
wenn es zu permanenten Diskriminierungen von Roma kommt.»

Mit der EU-Erweiterung 2004 hat die Union Millionen Roma
aufgenommen. «Die Situation ist heute schlechter als während der
kommunistischen Regimes in Osteuropa», sagt Soros. Damals seien
Wohnungen zugewiesen worden und es gab Arbeit. Die EU werde alle
rechtlichen Möglichkeiten gegen Diskriminierung ausschöpfen und die
Staaten zu mehr Engagement auffordern, sagt Sozialkommissar Vladimir
Spidla. Bildung, Arbeit und Wohnungen seien die dringendsten
Aufgaben. «Aber es wäre verantwortungslos zu sagen, von Brüssel kann
eine zentrale Roma-Strategie ausgehen.»

Das Problem müsse vor allem von den Staaten auf regionaler und
lokaler Ebene gelöst werden, sagt Spidla. Aber die Stereotypen von
den «Zigeunern» sollen durch einen kontinuierlichen Einsatz der
EU weiter bekämpft werden. «Ich möchte nicht, dass mein Kind neben
einem Roma-Kind in der Schule sitzt», sei eine alltägliche Aussage in
Ungarn, sagt die Roma und Europaabgeordnete Victoria Mohacsi. Roma-
Siedlungen seien ein leichtes Ziel für die Molotowcocktails von
Neonazis, «weil wir in Ghettos leben.» Der Schlüssel auf allen Ebenen
sei «Integration», heißt es immer wieder, alle Roma-Kinder müssten
Kindergärten und Schulen besuchen können.

Barroso sagt aber auch, dass man Roma nicht in die passive
Opferrolle drängen dürfe. Einige Staaten sprechen Teilen der Roma den
Willen zur Integration ab. Die Konferenz diene dazu, sich gegenseitig
etwa besser zu verstehen, sagt Barroso. Nicolae Gheorghe, der sich
«Unabhängiger Roma» nennt, sagt, dass man Roma als Partner fördern
müsse. «Wenn sie uns helfen, helfen sie auch sich selber.» Und dann
spricht er von seinem Traum: «Dass wir eines Tages einen Roma als EU-
Kommissar haben - nicht weil er Roma ist, sondern weil er
qualifiziert ist.»
dpa ir eb xx a3 tl