Füle: Neue Chance für EU-Beitritt der Türkei

30.04.2010 13:15

Brüssel (dpa) - Europas neuer Erweiterungskommissar Stefan Füle
sieht nach dem Inkrafttreten des EU-Reformvertrags von Lissabon neue
Chancen für die stockenden Beitrittsverhandlungen der Türkei. In
einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur lehnte Füle das von
Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy
propagierte Konzept einer «privilegierten Partnerschaft» entschieden
ab. Gleichzeitig zeigte sich Füle zuversichtlich, dass die
Verhandlungen für die Wiedervereinigung Zyperns trotz der Wahl des
Hardliners Dervis Eroglu zum neuen «Präsidenten» Nordzyperns
erfolgreich verlaufen könnten.

Die Teilung der Mittelmeerinsel, deren Norden türkische Truppen
besetzen, ist größter Bremsklotz in den türkischen EU-
Beitrittsgesprächen. Die von Eroglu angestrebte Zwei-Staaten-Lösung
lehnte Füle ab. «Grundlage der Verhandlungen muss die bizonale,
bikommunale Föderation sein», sagte Füle. Er werde so bald wie
möglich beide Inselteile besuchen.

Zypern ist seit 1974 geteilt, als die Türkei nach einem von
Griechenland eingefädelten Coup auf der Insel einmarschierte. Der
griechische Teil ist seit 2004 EU-Mitglied, während der Norden
international isoliert ist und nur von Ankara anerkannt wird. Weil
die Türkei wiederum Griechisch-Zypern nicht anerkennt und den Handel
blockiert, liegen die Beitrittsverhandlungen weitgehend auf Eis.

Eine Lösung des Zypern-Problems würde den Beitrittsprozess wieder
flott machen, sagte Füle. «Wir hätten mehr Manövrierraum.» Eine
Möglichkeit, zumindest den Streit um den Handel zwischen der Türkei
und Zypern zu lösen, bietet nun der Lissabonner Vertrag.

Die Türkei muss ihre mit der EU bestehende Zollunion eigentlich
auch auf Zypern anwenden («Ankara-Protokoll»). Ankara weigert sich
jedoch, weil die griechischen Zyprer jegliche Handelsbeziehungen der
übrigen EU-Länder mit Nordzypern blockieren. Der neue EU-Vertrag
lässt nun zu, Zypern mit qualifizierter Mehrheit zu überstimmen und
das Europaparlament einzubeziehen. Füle betonte, er hoffe, es werde
nicht nötig sein, Zypern zu überstimmen. «Wir hoffen sehr, dass diese

Diskussion pragmatisch verläuft.» Bis zur Wiedervereinigung müsse
Nordzypern aber aus seiner Isolation geholt werden.

Gleichzeitig kritisierte der Tscheche scharf die Blockade-Haltung
Zyperns und Frankreichs in den türkischen EU-Beitrittsverhandlungen.
«Mit diesem Spiel, einzelne Beitrittskapitel zu blockieren, ist
niemandem gedient. Sobald die Türkei das Ankara-Protokoll anwendet,
werden wir alles dafür tun, die Kapitel zu öffnen.»

Die Türkei führt seit 2005 Beitrittsverhandlungen mit Brüssel; d
ie
Aussicht, Mitglied zu werden, gab Europa der Türkei aber schon in den
1960er Jahren. In Deutschland sind einer jüngsten Umfrage zufolge 73
Prozent der Menschen gegen die Aufnahme. Füle versicherte, jedes neue
EU-Land werde nur aufgenommen, wenn es bereit sei, auch die Pflichten
der Mitgliedschaft zu erfüllen. Mit dem Konzept der privilegierten
Partnerschaft «arbeite ich nicht», sagte er. «Ich habe ein klares
Mandat, und das ist nicht darin enthalten.»

Die Türkei sei ein säkularer Staat. «Wir haben Millionen Muslime
in Europa, und ich hoffe, dass niemand diesen Zusammenhang herstellt,
dass die Türkei nicht aufgenommen werden sollte, weil dort viele
Muslime leben. Die EU ist kein religiöses Projekt, sie basiert auf
Werten, und wenn die Türkei klar macht, dass sie diese Werte nicht
nur teilt, sondern auch schützt, sollte sie diese Chance erhalten.»

dpa-Gespräch: Dorothée Junkers und Alvise Armellini, dpa