Traditionshandwerk in Nöten: Orgelbauer brauchen Blei Von Manuel Daubenberger, dpa
29.05.2012 20:13
Das kunstvolle Traditionshandwerk Orgelbau bangt: Eine EU-Richtlinie
soll den Bleieinsatz massiv einschränken - zum Schutz der Gesundheit.
Für Orgelbauer ist das giftige Metall aber überlebenswichtig. Sie
haben wenig Verständnis für die Regulierung.
Sinsheim/Heidelberg (dpa) - Thomas Mittermaier presst seine Lippen
an das kegelförmige Ende der Orgelpfeife und bläst hinein. Ein
dumpfer Ton erklingt. Auf diese Weise testet der 47-Jährige jede
einzelne Pfeife. Sein 74 Jahre alter Vater Wolfgang Mittermaier steht
am Nebentisch und schneidet weiche Platten aus einer
Blei-Zinn-Legierung, die später in Form gebogen werden. Direkt nach
dem Zweiten Weltkrieg hatte sein Vater das kleine Unternehmen im
baden-württembergischen Sinsheim gegründet - nun bedroht eine
EU-Richtlinie die Zukunft des Familienbetriebs.
Nach der Richtlinie darf in elektronischen Geräten nur noch ein
geringer Teil Blei stecken. Da Orgeln oft mit elektronischen Gebläsen
betrieben werden, sind auch sie betroffen. Mit 67 Betrieben sitzt
mehr als ein Drittel der deutschen Orgelbauer in Baden-Württemberg.
Acht davon sind Zuliefererbetriebe wie Pfeifenmanufakturen.
Thomas Mittermaier, der seit seinem 16. Lebensjahr Orgelpfeifen
baut, versteht die Notwendigkeit der EU-Richtlinie nicht. «Vor
einigen Jahren hat die Gemeinde Gesundheits-Checks von mir und den
Mitarbeitern gefordert, dabei wurden keine unregelmäßigen Bleiwerte
festgestellt», sagt der Familienvater. Giftige Abfälle gebe es
ebenfalls nicht. Metallreste, die beim Bau übrig bleiben, werden
sortiert, eingeschmolzen und wieder zu neuen Platten gegossen.
Mittermaier hat Kunden in der ganzen Welt, selbst nach Hongkong
lieferte er schon Orgelpfeifen. Diese werden in Handarbeit für jeden
Kunden individuell hergestellt, je nach Zinn-Blei-Verhältnis entsteht
ein anderer Klang. «Theoretisch könnte man die Pfeifen auch rein aus
Zinn herstellen, aber das kostet zehnmal so viel wie Blei», sagt
Mittermaier. Die hohen Rohstoffpreise machen den Herstellern sowieso
schon Probleme. Außerdem sorge das Blei für einen weicheren Klang.
Dem stimmt auch Orgelbauer Michael Becker zu: «Wenn Sie einer
Geige die Saiten nehmen, dann hat man nur noch Feuerholz.» So ähnlich
sei es mit den Orgelpfeifen. Becker steht inmitten von 1500 Pfeifen
im Orgelgehäuse der Sankt-Teresa-Kirche in Heidelberg - etwa neun von
zehn Pfeifen dort enthalten das giftige Blei. Die Pfeifen sind zu
Registern zusammengefasst. Je nach dem, welches Register der Organist
zieht, erklingen andere Töne. Die größten Pfeifen sind mehrere Meter
lang, die kleinste gerade einmal zweieinhalb Zentimeter.
Mit seiner Erfahrung aus mehr als 40 Jahren erkennt Becker jede
störende Schwingung. Der 58-jährige setzt zum Korrigieren das Ende
seines Stimmhorns auf die Spitze der Pfeife, klopft, verkleinert die
Öffnung etwas und nickt zufrieden. Für den Laien ist der Unterschied
nicht zu hören.
Wie jede Orgel ist auch diese ein Einzelstück, weshalb selbst das
vergleichsweise kleine Exemplar 400 000 Euro gekostet hat. Da sich
viele Kirchengemeinden wegen des Mitgliederschwundes eine solche
Investition nicht mehr leisten können, ist das Traditionshandwerk
stark bedroht. Wenn wegen der neuen Richtlinie keine Orgeln mehr
gebaut werden können, dürfte es noch schlimmer werden, sagt Becker:
«Nur vom Stimmen und Warten allein können wir nicht leben.» Eine
Möglichkeit sei, wieder auf elektronische Bauteile zu verzichten.
Beim Sinsheimer Orgelpfeifenhersteller ist sich Seniorchef
Wolfgang Mittermaier sicher, dass es nicht zum Bleiverbot für
Orgelpfeifen kommt. «Die Orgelbauer haben dann ja keine Pfeifen mehr.
Der Orgelbauverband wird sich schon wehren.» Baden-Württembergs
Wirtschaftsminister Nils Schmid (SPD) hat bereits seine Unterstützung
im Kampf für eine Ausnahmeregelung zugesagt. Vielleicht müssen zum
Erhalt des Traditionshandwerks alle Register gezogen werden.
# dpa-Notizblock
## Berichtigung
- Im gesamten Text wurde die Schreibweise des Nachnamens korrigiert:
Mittermaier (nicht: Mittermeier).
## Internet
- [Parlamentarische Anfrage]( http://dpaq.de/Ata63)
- [Bund deutscher Orgelbauer](http://dpaq.de/IoVJc)
## Orte
- [Orgelpfeifenhersteller](Louis-Goos-Straße 12, 74889 Sinsheim)
- [St. Teresa-Kirche](Mühlweg, 69118 Heidelberg)