Im Dschungel von Calais - Flüchtlinge hoffen auf Fahrt nach England Von Ulrike Koltermann, dpa
28.10.2008 11:00
Calais (dpa) - «Gillette! Gillette!» ruft die alte Dame mit
Perlenkette und schwenkt eine Handvoll Einwegrasierer. «Gillette»
versteht jeder junge Mann, egal ob er aus Afghanistan, Eritrea oder
aus Darfur kommt. In dem kleinen Lichthof, der zu den Räumen der
Hilfsorganisation Secours Catholique gehört, stehen mehrere Männer
vor Spiegeln und rasieren sich. Sie sind frisch geduscht und haben
saubere Wäsche ausgeteilt bekommen. Für manche ist es die erste
Dusche seit Wochen. «Der junge Mann dort hat noch kein Rasierzeug»,
ruft die ehrenamtliche Helferin. Der Angesprochene grinst verlegen.
Er ist so jung, dass er noch gar keinen Bartwuchs hat.
In Calais strömen sie zusammen - Auswanderer aus der Armut,
Flüchtlinge vor Krieg und Elend, Hoffnungsvolle, die ein besseres
Leben in Europa suchen. Manche von ihnen sind noch halbe Kinder, auf
die Reise geschickt von ihrer Familie, die darauf vertraut, dass sie
sich durchschlagen und irgendwann Geld nach Hause schicken.
Sie haben wochen- und monatelange Strapazen hinter sich. Sie sind
hager und misstrauisch geworden. Sie wollen nach England, weil sie
gehört haben, dass es dort einfacher sei, schwarz zu arbeiten. Zudem
sprechen die meisten von ihnen Englisch und haben bereits Kontakt zu
Landsleuten, die es nach Großbritannien geschafft haben. Von Calais
aus sind es nur noch gut 30 Kilometer, aber die Grenze ist eine der
am besten gesicherten in Europa.
Nach der Dusche sitzen die jungen Männer im Aufenthaltsraum von
Secours Catholique und trinken Tee mit viel Zucker. Eine alte
Stereoanlage spielt orientalische Musik. An der Wand hängen mit
dicken Filzstiften beschrieben Papierbögen. «I love Afghanistan» ist
zu lesen oder «Danke an alle von Secours Catholique». Viele Zettel
sind auf Arabisch. Die Hilfsorganisation hat ihren Sitz in einer
Reihenhaus-Siedlung. Sie hat mehrfach eine Baugenehmigung beantragt,
um die Migranten besser versorgen zu können. Doch die Behörden haben
immer wieder abgelehnt.
Der 22-jährige Omar aus Eritrea ist erschöpft. Er war die ganze
Nacht auf den Beinen. Einer seiner Landsleute ist bei einem Versuch,
sich auf einen Lastwagen Richtung England zu schmuggeln, ums Leben
gekommen. Der Lkw hatte am Ufer eines Flusses geparkt, und der Mann
war beim Versuch, in den Laderaum zu klettern, ins Wasser gestürzt.
Ein Franzose, der den jungen Mann aus Eritrea retten wollte, ertrank
ebenfalls. Omar war mit Mitarbeitern der Hilfsorganisation bei der
Polizei, um seinen Freund zu identifizieren. «Jetzt muss ich es
seiner Familie in Eritrea mitteilen», sagt er und beißt sich auf die
Unterlippe.
Omar war gemeinsam mit seinem Freund aus seiner ostafrikanischen
Heimat aufgebrochen. «In Eritrea habe ich keine Zukunft. Die
Regierung ist schlecht. Wir müssen 20, 30 Jahre Militärdienst
machen», erzählt er. «Ich habe Biologie studiert, aber dann wurde die
Uni geschlossen.» Eritrea, das nach einem jahrzehntelangen
Bürgerkrieg 1993 von Äthiopien unabhängig wurde, zählt zu den ärm
sten
Ländern Afrikas. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf beträgt nicht
einmal 700 Dollar. «Ich will kein Soldat sein. Ich will studieren»,
sagt Omar. Wenn er lacht, blinkt sein goldener Eckzahn auf.
Auf einer Karte an der Wand zeichnet er mit seinem Finger seine
Reise nach. Eritrea-Sudan: vier Tage, teils zu Fuß, teils im Laster,
2000 Dollar. Sudan-Libyen: zwei Wochen auf der Ladefläche eines
Lastwagens durch die Wüste, 1000 Dollar. «Wir waren 30, aber einige
sind unterwegs heruntergefallen und ums Leben gekommen», sagt Omar.
Libyen-Malta: fünf bis zehn Tage auf einem überladenen Holzboot, 1500
Dollar. «Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat, mein Kopf hat
nicht mehr funktioniert», erinnert er sich.
Das Geld für die Reise haben Verwandte und Freunde für ihn
zusammengebracht. «Mein Vater ist Bauer, wir haben drei Kühe. Er ist
alt. Er hofft, dass ich die Familie irgendwann unterstützen kann»,
sagt Omar. Er trägt einen silbernen Ring am Finger, der ihn an seine
Freundin Zainab erinnert, die in Khartum geblieben ist. «Wenn ich
Geld habe, möchte ich sie nachholen und heiraten», sagt Omar.
Als er seinen Tee ausgetrunken hat, kehrt Omar in seine Bleibe
zurück, wo er seit zwei Wochen haust. Es ist ein altes Sägewerk am
Stadtrand von Calais, in dem etwa 200 Flüchtlinge Zuflucht gefunden
haben, unter ihnen auch Frauen und Kinder. Die riesige Halle wird nur
von Oberlichtern und Löchern im Dach erhellt. Es ist feuchtkalt und
stinkt nach Müll, der sich draußen häuft. An der unverputzten Wand
reihen sich Matratzen. Manche Schlafstellen sind mit orangenen
Straßensperren abgetrennt. Kleidung und vollgestopfte Plastiktüten
hängen an Nägeln in der Wand. Jemand hat einen Einkaufswagen als
Schrank eingerichtet. Ein Dutzend Kinder spielt kreischend Fangen.
Omar hockt sich zu einer Gruppe von Landsleuten, die in einer Ecke
der Halle um ein Lagerfeuer sitzen. In einem Kochtopf auf zwei
Mauersteinen brodelt Reis. «Wir leben mies hier», sagt Omar. «Es gibt
nicht immer genug zu essen, wir können uns nicht waschen und die
Polizei verjagt uns immer wieder», sagt Omar. «Sie sprühen Tränenga
s
und bringen uns auf die Wache, um Fingerabdrücke zu machen. Manchmal
setzten sie uns kilometerweit vor der Stadt aus, und wir müssen zu
Fuß zurücklaufen.»
Die meisten Migranten in Calais sind «nicht abschiebbar», weil sie
aus Ländern kommen, in denen Krieg herrscht. Sie können in Europa
Asyl beantragen, aber nur in dem Land, in dem sie als erstes
angekommen sind. Das sieht die sogenannte Dublin-II-Verordnung vor.
Experten kritisieren, dass die Länder an der EU-Außengrenze mit der
Zahl der Asylbewerber bereits überfordert sind. Viele Flüchtlinge
versuchen zu vermeiden, dass man ihre Fingerabdrücke nimmt, denn dann
können sie in das jeweilige Land zurückgeschickt werden.
Frankreich hat sich im Rahmen seiner EU-Ratspräsidentschaft
vergeblich dafür eingesetzt, die Asylbestimmungen EU-weit zu
vereinheitlichen. In dem im Oktober verabschiedeten Einwanderungspakt
ist nur noch davon die Rede, dass die Mitgliedsstaaten den
Informationsaustausch über Asylbewerber verbessern wollen.
In der kleinen Runde ums Feuer hat schon jeder mehrere Versuche
hinter sich, auf einem Lastwagen versteckt durch den Eurotunnel nach
England zu kommen. «Ich habe es mehrmals in Kühllastern versucht, die
Obst transportieren», erzählt einer. «Aber ich habe die Kälte nicht
ausgehalten und jedes Mal laut geklopft», sagt er und lacht dabei,
als habe er einen guten Witz gemacht. Sein Sitznachbar hält sich
schon mehreren Wochen in Calais auf. Er ist mit seiner Frau
unterwegs, die im sechsten Monat schwanger ist. «Wir hatten gehofft,
das Kind würde in England zur Welt kommen, aber jetzt ist es zu
gefährlich, sich auf einen Lastwagen zu schmuggeln», sagt er.
Die französischen und britischen Behörden haben in den vergangenen
Jahren die Kontrollen immer weiter verschärft und ausfeilt. Der Hafen
von Calais ist mit seinen 2,50 Meter hohen Stacheldraht- und
Elektrozäunen und zahlreichen Kameras kaum noch erreichbar. Die
Lastwagen werden mit hochsensiblen Geräten überprüft, die Herzschlä
ge
entdecken oder den CO2-Gehalt messen, der menschlichen Atem verrät.
Wer sich auf einen Lastwagen schmuggeln will, muss ein paar
Hundert Euro an einen Schlepper zahlen, der wiederum die
Lastwagenfahrer besticht. Seit Beginn dieses Jahres wurden in der
Region etwa 24 000 Migranten festgenommen - die meisten von ihnen
wurden anschließend wieder laufen gelassen.
Derzeit halten sich etwa 1500 Flüchtlinge an der französischen und
belgischen Küste des Ärmelkanals auf. Das sind fast genau so viele
wie vor sechs Jahren, als der damalige französische Innenminister
Nicolas Sarkozy ein Flüchtlingslager des Roten Kreuzes in Sangatte,
einem Vorort von Calais, schließen ließ. Sarkozy argumentierte
damals, dass das Lager nur noch weitere Flüchtlinge anziehe. Der
Kampf gegen die illegale Einwanderung sicherte ihm außerdem ein paar
Jahre später zahlreiche Stimmen bei der Präsidentschaftswahl.
«Seit der Schließung von Sangatte hat sich die Lage eher
verschlimmert», sagt Jackie Verhaegen von der Hilfsorganisation
Secours Catholique. Der einzige Unterschied sei, dass das Thema in
der Öffentlichkeit keine große Rolle mehr spiele. «Die Flüchtlinge
hausen jetzt in improvisierten Baracken oder alten Containern nahe
der Autobahn, es heißt sie wohnen "im Dschungel"», sagt Verhaegen.
Die Hilfsorganisationen würden sich strafbar machen, wenn sie
ihnen Unterkünfte zur Verfügung stellen würden. Dies wäre eine
«Beihilfe zum illegalen Aufenthalt». «Aber es ist absurd: sobald es
ein Problem gibt, rufen uns die Behörden, damit wir uns um die
Migranten kümmern», sagte Verhaegen.
Seit sechs Jahren teilen Secours Catholique und andere
Hilfsorganisationen in Calais täglich Essen aus, bringen Flüchtlinge
zum Duschen und verteilen frische Wäsche. Wenn es sein muss, bezahlen
sie auch eine Pension, wenn jemand ernsthaft krank ist. «Es kommen
immer neue Flüchtlinge nach. Zum Glück schaffen es auch ständig
welche nach England. Wenn es nicht so wäre, hätten wir vermutlich
schon ein paar Tausend Menschen hier», meint Verhaegen.
Unterdessen ist der Reis gar geworden, den die Flüchtlinge auf dem
Feuer gekocht haben. Sie mischen ihn mit Ölsardinen und essen
gemeinsam aus dem großen Topf. Es tut gut, etwas Warmes in den Bauch
zu bekommen. Einige von ihnen wollen in der Nacht den nächsten
Versuch wagen, sich auf einen Laster zu schmuggeln. Auch Omar will es
bald wieder versuchen. «Eines Tages wird es klappen, da bin ich ganz
sicher», meint er.
dpa uk xx a3 ch