Schlüsselpassagen aus dem Tagliavini-Bericht

30.09.2009 15:18

Brüssel (dpa) - Einige Schlüsselpassagen aus dem am Mittwoch in
Brüssel veröffentlichten Bericht über den georgisch-russischen Krieg
vom August 2008 in dpa-eigener Übersetzung:

«Die Kommission ist nicht in der Lage, die georgische Behauptung
hinsichtlich einer großangelegten russischen Invasion in Südossetien
vor dem 8. August 2008 als bewiesen zu betrachten. Es gibt allerdings
eine Reihe von Berichten und Veröffentlichungen auch von russischer
Seite über die Bereitstellung von Training und militärischer
Ausrüstung durch die russische Seite für die südossetischen und
abchasischen Kräfte vor dem Konflikt vom August 2008. (...)

Es stellt sich die Frage, ob der Einsatz von Gewalt durch Georgien
in Südossetien, beginnend mit dem Beschuss Zchinwalis in der Nacht
vom 7. auf 8. August, unter internationalem Recht gerechtfertigt war.
Er war es nicht. (...)

Aus dem illegalen Charakter des georgischen militärischen Angriffs
ergibt sich, dass das reagierende Handeln Südossetiens zur
Verteidigung dem internationalen Recht der Selbstverteidigung
entspricht. Jede Operation der südossetischen Kräfte, die über das
Zurückschlagen des georgischen Angriffs hinausging, vor allem
Handlungen gegen Menschen georgischer Herkunft innerhalb und
außerhalb Südossetiens, muss als Verletzung internationalen Rechts
und des Kriegsvölkerrechts betrachtet werden. (...)

Es gab keinen laufenden militärischen Angriff Russlands vor dem
Beginn der georgischen Operation. Georgische Behauptungen einer
großangelegten Präsenz russischer Streitkräfte in Südossetien am
7./8. August konnten von der Kommission nicht nachvollzogen werden.
Es konnte auch nicht nachgewiesen werden, dass Russland kurz vor
einem solchen größeren Angriff stand, obwohl bestimmte Ausrüstung
bereitstand. (...)

Erstens scheint wenig Zweifel darüber zu bestehen, dass dann, wenn
russische Friedenstruppen angegriffen wurden, Russland das Recht
hatte, sie durch militärische Mittel zu verteidigen, die dem Angriff
angemessen waren. Daher wäre der russische Einsatz von Gewalt zu
Verteidigungszwecken während der ersten Phase des Konflikts legal
gewesen.

Zweitens muss festgestellt werden, ob der nachfolgende russische
Militäreinsatz tief innerhalb Georgiens als Verteidigungsmaßnahme
gegen den ersten georgischen Angriff nötig und verhältnismäßig war.
Obwohl eingeräumt werden muss, dass es nicht einfach ist, die Grenze
zu ziehen, scheint es doch, dass ein großer Teil der
russischen Militäraktion weit über die vernünftigen Grenzen der
Selbstverteidigung hinausging. (...)

Im vorliegenden Fall war das russische Handeln nicht
ausschließlich auf die Rettung russischer Bürger gerichtet, sondern
überschritt diese Grenze mit einer ausgedehnten militärischen
Operation in weiten Teilen Georgiens sehr deutlich. Daraus muss
gefolgert werden, dass der russische Militäreinsatz außerhalb
Südossetiens im Wesentlichen außerhalb des internationalen Rechts
vonstatten ging.(...)

Neben jenen Handlungen, die vom 7. bis 12. August geschahen, gab
es auch Handlungen, die nach dem Inkrafttreten des Waffenstillstands
begangen wurden und die ernste Fragen hinsichtlich der
Mitverantwortung der Streitkräfte aufwerfen, die damals die Lage
kontrollierten und deren Aufgabe es war, die Zivilbevölkerung zu
schützen. Die meisten dieser Verbrechen während des Konflikts vom
August 2008 und während der Wochen nach dem Waffenstillstand wurden
in Südossetien und in der angrenzenden sogenannten Pufferzone
begangen. (...)

Der Mangel an rechtzeitigem und hinreichend entschlossenem Handeln
der internationalen Gemeinschaft und zu einem gewissen Teil das wenig
innovative Herangehen an den Friedensprozess durch die
internationalen Organisationen haben zum Ausbruch der Krise
beigetragen. So steigerte sich eine Folge von Fehlern,
Missverständnissen und verpassten Gelegenheiten auf allen Seiten bis
zu einem Punkt, an dem die Gefahr einer Explosion der Gewalt zur
Wirklichkeit wurde. Bei der Bewertung muss die Vorgeschichte des
Krieges in den vorangegangenen Jahren ebenso berücksichtigt werden
wie die zunehmenden Spannungen in den Monaten und Wochen unmittelbar
vor Ausbruch der Feindseligkeiten.»

(Internet: http://www.ceiig.ch)
dpa eb xx w4 jf