Die Macht, ein Foto und Merkel mittendrin Von Kristina Dunz, dpa
07.02.2013 10:35
Auch wenn der zweite Gipfel zum Billionen-Haushalt der EU scheitern
sollte - das Drumherum steht immer. EU-, Nato- oder G8-Treffen werden
für viel Geld perfekt vorbereitet, bis hin zum Familienfoto. Alles
inklusive - bis auf das Ergebnis.
Berlin (dpa) - Es sind 62 Menschen auf dem Foto, aber die
Kanzlerin ist nicht zu übersehen. Lauter schwarze Anzüge vermischen
sich zu einer großen Masse, denn es sind viele Männer, sehr viele
Staats- und Regierungschefs, die sich da vor chilenischer Kulisse
aufgestellt haben. Und so fallen die wenigen Frauen ohnehin aus dem
Rahmen, auch wenn Argentiniens Präsidentin Cristina Kirchner seit dem
Tod ihres Mannes ebenfalls schwarz trägt und Brasiliens Staatschefin
Dilma Rousseff dunkel gekleidet ist. Amtskollegin Laura Chinchilla
aus Costa Rica belebt die Szene mit einem blauen Kleid - doch an
diesem Tag sticht Angela Merkel klar heraus. Sie trägt Knallorange.
Es ist Ende Januar und die EU und die Staaten Lateinamerikas und
der Karibik (Celac)haben sich im sonnigen Santiago de Chile zu einem
Gipfel versammelt. Und wie bei jedem Gipfel gibt es das sogenannte
Familienfoto. Da sollen alle auf das Bild, egal ob sie sich mögen
oder nicht, sich Merkel und Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy
über den EU-Haushalt noch kurz zuvor beharkt oder viele im kleinen
Kreis über Großbritanniens Premierminister David Cameron gelästert
haben, der sein Volk über die britische EU-Mitgliedschaft abstimmen
lassen will. Alle winken oder lachen dann. Vielleicht heißt es ja
auch deshalb Familienfoto, weil es in Familien ähnlich ist.
Und manchmal sagen Bilder eben mehr als 1000 Worte. So steht
Merkel in orangenem Blazer und beigefarbener Hose ganz vorne,
ziemlich in der Mitte. Man könnte meinen, sie sei die Gastgeberin.
Dass sie diesen Blazer ganz gezielt aus dem Schrank geholt habe, um
aufzufallen, mag ihr Umfeld kaum glauben. Für so etwas habe die
Kanzlerin gar keinen Sinn, heißt es.
Ausrichter des Gipfels ist Chiles Präsident Sebastián Piñera. Er
ist so begeistert, dass die wohl mächtigste Frau der Welt den weiten
Weg nach Santiago gekommen ist, dass er sie aus seiner Sicht ins
rechte Licht rückt. Denn Merkel gebührt eigentlich nicht die erste
Reihe, weil sie kein Staatsoberhaupt, sondern in der Rangfolge «nur»
Regierungschefin ist. Und Piñera wollte sicher auch höflich gegenüber
der - auf dieser hohen Ebene kleinen - Damenwelt sein. Oder er hat
sich einfach auf das Alphabet berufen: A, B, C, D - Argentinien,
Brasilien, Costa Rica, Deutschland. Jedenfalls standen die vier
Staatenlenkerinnen nebeneinander.
In Brüssel hingegen wirft keiner so leicht die Regie um. Frau hin
oder her. Reale Macht klein oder groß. Bei Familienfotos von
EU-Gipfeln geht es streng nach Titel. Merkel steht weiter hinten. Was
das betrifft, läuft ihr Litauens Staatspräsidentin Daila Grybauskaite
den Rang ab, die für das Foto in der ersten Reihe steht. Es gibt aber
noch ein Kriterium: die sogenannte Anciennität - die Rangfolge nach
Dienstalter. Merkels bald achtjährige Kanzlerschaft bringt sie
zunehmend nach vorn.
Ein Gutes hat die zweite Reihe aber in der Vergangenheit für
Merkel schon gehabt. Beim G8-Gipfel im italienischen L'Aquila, als es
um Wasserzugang und Nahrungssicherheit für arme Staaten Nordafrikas
ging, standen auch diese Staatschefs in der ersten Reihe: Libyens
inzwischen getöteter Machthaber Muammar al-Gaddafi und Ägyptens
inzwischen zu lebenslanger Haft verurteilter Präsident Husni Mubarak
- Merkel schräg dahinter.
Geplante Gipfel mit Vertretern aus afrikanischen und arabischen
Staaten und Israel seien übrigens mitunter schon nicht zustande
gekommen, weil der eine nicht neben dem anderen für das Familienfoto
posieren wollte - «jahrzehntelang gepflegte Feindschaften», berichtet
ein Diplomat.
Die großen Treffen der Staats- und Regierungschefs der
Europäischen Union werden straff durchorganisiert. «Alles ist
gründlich vorbereitet, aber 27 Köpfe müssen sich einigen, das ist das
Problem», sagt EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy in einer Art
Werbefilm («Backstage»), den das Ratssekretariat für einen Blick
hinter die Kulissen verbreitet. Dort kommen wichtige Regisseure zu
Wort. Etwa Protokollchef Leopold Radauer.
«Eine meiner Aufgaben ist es, hochrangige Besucher auf dem roten
Teppich in Empfang zu nehmen» sagt er. Seine Befähigung begründet er
nicht ohne Humor: «Ich habe Psychologie studiert. Das hilft mir ein
bisschen in diesem Job. Man muss auf sie zugehen und offen sein. Das
heißt, ich bin schon ein bisschen ein Dr. Feelgood.» Womit er sagen
will, dass sich die unter extremer Anspannung stehenden Politiker
wenigstens zum Empfang bei ihm gut fühlen sollen und können.
Wenn Verträge unterschrieben werden, wird darauf geachtet, wer
Rechts- und wer Linkshänder ist, damit die Dokumentenmappe gleich von
der richtigen Seite aus vorgelegt wird. Ganz wichtig: die Übersetzer.
Nicht die einzelnen Wörter seien von Bedeutung, sondern der Sinn, die
Botschaft, der Ton, sagt eine Dolmetscherin. Darauf legt auch Merkel
höchsten Wert. Und auf die Deutungshoheit. Im vorigen Juni hatte sie
morgens um 05.00 Uhr keine Pressekonferenz mehr gegeben und das Feld
beim Thema Bankenhilfe anderen überlassen. Plötzlich stand
Deutschland als Verlierer da. Das passiert ihr nie wieder.
Beim Arbeitsessen gibt es drei Gänge - möglichst leichte Kost,
damit nichts schwer im Magen liegt. Das geht relativ schnell über die
Bühne in ein, zwei Stunden. Länger kann dann der Kaffee dauern. Die
heiklen Themen würden zum Schluss beraten, sagt ein EU-Diplomat der
Deutschen Presse-Agentur. Bis so eine Tasse Kaffee dann ausgetrunken
sei, könnten schon einige Stunden vergehen. «Bis das Ergebnis steht.»
Zwei Gipfeltage kosten eine Million Euro, berichtet er. Das Geld
kommt aus dem EU-Haushalt. 20 Prozent zahlt davon Deutschland. Die
Unterbringung der 27 Delegationen mit insgesamt etwa 1000 Mitgliedern
nicht eingerechnet. Sie zahlen selbst. Bei einem solchen
Spitzentreffen sind zum Teil bis zu 2000 Menschen im Einsatz - für
Technik, Sicherheit, Übersetzung, Organisation und Wohlergehen. Auch
für die rund 1500 Journalisten.
Und trotz aller Vorbereitung geht immer wieder etwas schief, weil
Politiker aus der Reihe tanzen. So beim Nato-Gipfel 2009 in Kehl.
Merkel begrüßt die Staats- und Regierungschefs am Rheinufer, um mit
ihnen zum Familienfoto auf die Rheinbrücke zwischen Kehl und
Straßburg zu gehen. Italiens damaliger Ministerpräsident Silvio
Berlusconi steigt mit dem Handy am Ohr aus seiner Limousine. Er sieht
Merkel, winkt ab und geht bedeutungsschwer telefonierend hin und her.
Merkel begrüßt erst alle anderen. Eine Kamera fängt ihren Blick in
Richtung Berlusconi ein: ihre Lippen und Augen werden schmal. Sehr
schmal. Auch dieses Bild spricht Bände. Sie lässt Berlusconi stehen.
Später wurde aus der italienischen Delegation berichtet,
Berlusconi habe just in dem Moment mit dem türkischen
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan telefoniert. Denn dieser
wollte den Dänen Anders Fogh Rasmussen wegen der Affäre um die
Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung nicht als
Nato-Generalsekretär akzeptieren. Rasmussen ist es dann doch noch
geworden.
Im Gegensatz zu ihrem politischen Durchsetzungsvermögen bei
Gipfeln gilt Merkel in Bezug auf das Protokoll als unkompliziert. Vor
dem EU-Celac-Gipfel soll sie aber Pläne als suboptimal bezeichnet
haben, Kubas Staatschef Raúl Castro vor seiner Übernahme der
Präsidentschaft der Celac-Gemeinschaft während des Gipfels neben ihr
zu platzieren. So blieb es bei einem Händedruck - natürlich für ein
Foto. Und sollte auch der zweite EU-Gipfel zum mittelfristigen
Finanzrahmen der Gemeinschaft an diesem Freitag scheitern - Merkel
besteht mit Cameron auf Kürzungen - wird es trotzdem ein Foto geben.
Ein echtes Familienfoto.