(KORR-Bericht) Gabriels großes Herz für die Stahlkocher Von Georg Ismar, dpa

08.04.2014 16:12

Sigmar Gabriel warnt vor einem Ausspielen von Bürgern und Industrie
beim Strompreis. Überraschend werden bei seiner Ökostrom-Reform die
Milliarden-Rabatte der Industrie bei den Förderkosten kaum gekürzt.

Dabei hatte die SPD hier früher andere Versprechen gemacht.

Berlin (dpa) - Sigmar Gabriel ist ein begnadeter Rhetoriker. Also
greift er zum Totschlagargument. Soll man für 40 Euro Entlastung in
einem Drei-Personen-Haushalt Hunderttausende Arbeitsplätze in Gefahr
bringen, fragt der Bundeswirtschaftsminister etwas ketzerisch. «Das
hielte ich für ein frivoles Unterfangen.» Kurz zuvor hat das Kabinett
seine Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) gebilligt, der
SPD-Vorsitzende preist das Werk am Dienstag als großen Wurf. Doch
alles dreht sich um einen Passus, der erst in letzter Minute geregelt
worden ist. Und daher im Mai nachträglich vom Kabinett beschlossen
werden muss.

Nach Unterzeichnen des Koalitionsvertrags mit der Union hieß es,
die SPD mache «Politik für die kleinen Leute». Letztere, zumindest
die, die nicht im Stahlwerk oder der Aluhütte arbeiten, schauen nun
allerdings etwas in die Röhre. Denn für den SPD-Chef zählt weniger
deren Stromkosten, sondern die Sicherung von Industriejobs im Zuge
der Belastungen durch die Energiewende. 2100 Unternehmen genießen
bisher Entlastungen bei den Förderkosten für Ökostrom, das belastet
die Stromrechnungen von Bürgern und nicht begünstigten Unternehmen
mit 5,1 Milliarden Euro.

Gabriels überraschende Aussage: Bei diesem Volumen wird es in etwa
auch künftig bleiben. Im Bundestagswahlkampf versprach die SPD eine
Kürzung der Industrie-Rabatte um 500 Millionen Euro. Im Februar sagte
Gabriel: «Wenn wir es schaffen, eine Milliarde da rauszukriegen, dann
wären wir schon außerordentlich gut.» Nun steht unterm Strich: null
Euro - obwohl die von Steuern und Abgaben weitgehend befreiten
Industriestrompreise in Deutschland auf einem Zehn-Jahres-Tief sind.

Zwar sollen nur noch 1600 Unternehmen umfassend begünstigt werden,
aber Gabriel rechnet wegen der komplexen Regelung, die mit der
EU-Kommission in der Nacht zuvor abgestimmt worden ist, dass die
Industrie genauso viel zu den Ökostrom-Förderkosten beitragen wird
wie bisher. Es geht um ein komplett neues System, nun werden Rabatte
nicht mehr über den Verbrauch, sondern über die Bruttowertschöpfung
ermittelt. Besonders überraschend ist, dass die EU-Kommission ein
Beihilfeverfahren gegen Deutschland wegen der Rabatte eingeleitet
hatte - und am Ende gibt es in der Summe kaum Mehrbelastungen.

Bis zuletzt war unklar, ob der Kabinettsbeschluss wegen des
Ringens zu halten war. Anders als üblich wurde die Tagesordnung vom
Kanzleramt nicht am Vortag verschickt, sondern eine Stunde vor
Sitzungsbeginn am Dienstag um 08.00 morgens. Kurz danach sickerte
durch, dass mit EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia kurzfristig
eine informelle Verständigung bei den im EEG-Entwurf zunächst
ausgesparten und daher noch nicht beschlossenen Industrie-Rabatten
erzielt worden war. Der 314 Seiten umfassende Entwurf sieht zur
Kostendämpfung Förderkürzungen bei Windenergie an Land und Biomasse
vor, der Ausbau wird begrenzt und besser gesteuert. An einer
Botschaft wird Gabriel nun gemessen: Ein stabiler Strompreis bis
2017. Ausgerechnet sein Industrie-Kurs könnte das erschweren.

Gabriel hat in Brüssel vehement für weiterhin möglichst umfassende

Ausnahmen gekämpft. «Die Frau Bundeskanzlerin hat uns sehr geholfen»,

dankt er Angela Merkel. Der Präsident des Bundesverbandes der
Industrie, Ulrich Grillo, ist voll des Lobes für Gabriel - der das
Wirtschaftsprofil der SPD schärfen will. Ein Haushalt zahlt derzeit
knapp 29 Cent die Kilowattstunde, 15 Cent sind dabei Umlagen, Steuern
und Abgaben. Unternehmen mit bis zu 20 000 Megawattstunden Verbrauch
zahlen rund 15 Cent, Aluwerke dank umfassender Befreiungen 10,6 Cent.

Aber Gabriel steht ein wenig das Glück zur Seite. Jeder Bürger
kann im Internet einsehen, wie sich die Einnahmen (Umlagezahlungen
von Bürgern und Unternehmen und die Erlöse für den produzierten
Strom) und die Ausgaben (die Förderkosten für die Betreiber etwa von
Solar-, Wind- und Biogasanlagen) auf dem Ökostrom-Konto entwickeln.

Und anders als die letzten Jahre steht dort Anfang April ein
dickes Plus, auch weil ein Liquiditätspuffer eingebaut worden ist:
1,775 255 639,92 Milliarden Euro lautet derzeit der exakte
Kontostand. Das kann dazu führen, dass für die Bürger die Umlage 2015

erstmals sinken wird - je nachdem wie sich auch die
Industrie-Rabattregelungen auswirken, die, wenn die Reform im August
in Kraft tritt, schon in die Umlage 2015 eingepreist werden könnten.
Derzeit zahlt ein Haushalt bei 3500 Kilowattstunden Verbrauch knapp
1000 Euro für Strom im Jahr. 218 Euro macht die Umlage aus, mit der
Wind- und Solarstrom gefördert wird. Bei den 218 Euro entfallen
wiederum 45 Euro auf Industrie-Rabatte.

Während die Umlageentwicklung auch von der Sonnenmenge im Sommer
abhängt, ist hingegen klar, dass es nur die erste Reform sein kann.
Denn es braucht ein neues Marktmodell, bei der Bundesnetzagentur gibt
es Anträge auf die Stilllegung von 45 Kraftwerksblöcken, weil sie
sich wegen der Ökostrom-Zunahme nicht mehr rechnen. Gabriel
verspricht zudem mehr Erdkabel, um den Netzausbau zu stemmen.
Insgesamt sei das vom Ausbautempo und den Kosten her bisher recht
anarchistisch verlaufen. «Jetzt haben wir auf gut deutsch gesagt, den
Salat.»