EU-Parlaments-«Neuling» Ismail Ertug setzt auf die Jugend Interview: Petra Klingbeil, dpa

16.05.2014 08:20

Es gibt auch die menschliche Seite der EU-Abgeordneten. Sie sprechen
darüber, wie sie das politische Geschäft sehen und wie der Beruf ihr
Leben verändert.

Straßburg (dpa) - Für den Deutsch-Türken Ismail Ertug (SPD) endet
seine erste Legislaturperiode im EU-Parlament. Der 38-Jährige aus
Amberg in Bayern gehört damit zu den Parlaments-«Neulingen», doch
politisch aktiv ist er schon seit 1999, erst bei den Jusos, dann im
Amberger Stadtrat. Er hofft auf eine Wiederwahl in die europäische
Volksvertretung. In einem Interview der
Nachrichtenagentur dpa spricht er über sein Abgeordnetenleben.

Frage: Herr Ertug, wie haben Sie sich die Arbeit als
Europaparlamentarier vorgestellt, bevor Sie nach Straßburg kamen?

Antwort: Ich habe sie mir nicht annähernd so vorgestellt, wie die
Realität wirklich ist. Was ich definitiv unterschätzt habe ist die
permanente Abwesenheit von zu Hause. Ich komme ja aus der bayerischen
Provinz, aus dem Amberger Stadtrat, da ging es beschaulich zu. Ich
musste erst einmal lernen, dass man sich im Parlament nicht so
begegnet wie im Stadtrat oder im Bundestag, wo man sich grundsätzlich
gegen das ausspricht, was von der Gegenseite kommt. Im EU-Parlament
ist die Arbeit sehr sachbezogen, themenorientiert und kollegial, und
das hat mich sehr geprägt.

Frage: Was für Vorstellungen oder Wünsche hatten Sie, als sie hierher
kamen?

Antwort: Ich habe mir das EU-Parlament ausgewählt, weil ich wegen
meiner Biografie die Internationalität in mir trage, und wegen der
Art und Weise, wie ich politisiert worden bin. Als Teenager habe ich
von Amberg aus das tschechische Grenzgebiet besucht. Das war kurz
nach der Wende, und ich habe erstmals Grenzzäune mit Stacheldraht
erlebt, und das war ein beklemmendes Gefühl. Da muss in der
Vergangenheit etwas schief gelaufen sein, dachte ich. Die
Aufarbeitung dessen hat mich zur EU geführt.

Frage: Haben sich Ihre Erwartungen erfüllt, oder gibt es
Frustrationen?

Antwort: Das war eine der besten Entscheidungen, die ich treffen
konnte. Weil das hier eine privilegierte Arbeit ist. Man muss das
wertschätzen können, dass Bürger einem den Auftrag erteilen, sie in
Straßburg und Brüssel zu vertreten. Dieses Hohe Haus hat es verdient,
dass man ihm Respekt entgegenbringt. Die Reiserei ist vielleicht
manchmal etwas frustrierend.

Frage: Was haben Sie hier über Politik gelernt?

Antwort : Man lernt, dass das, was man hier tut, reale Auswirkungen
auf das Leben vieler Menschen hat. Ich kann jetzt wirklich etwas mit
dem Begriff Verantwortung im politischen Sinn anfangen.

Frage: Was ist Ihnen wichtig?

Antwort: Wichtig finde ich meine Arbeit an der Basis, mit der Jugend.
Ich habe regelmäßige Termine an Schulen und Hochschulen. Das ist das,
was mir an meinem Job mit am meisten gefällt. Die jungen Leute fragen
sich, was kommt da für ein langweiliger Politiker, der uns zwei
Stunden lang aufhält. Ich versuche ihnen zu zeigen, dass auch ich aus
Fleisch und Blut bin, und bin auch provokativ. Sie halten zum
Beispiel Frieden in Europa für selbstverständlich? Na, dann gehen sie
doch mal in die Ostukraine! Ich erzähle ihnen von Jugendlichen in
anderen Ländern, die keine Sicherheit und Stabilität kennen und nicht
wissen, ob sie am Samstagabend in die Disco gehen können. Sie könnten
vielleicht eine Rakete auf den Kopf bekommen oder auf eine Mine
treten. Jugendliche in ihrem Alter laufen herum ohne Arm oder Bein
oder sind querschnittsgelähmt, oder tot. Das muss ich so bedrückend
erzählen, damit die Jugendlichen sich mal Gedanken machen. Es ist
schon ein Erfolg, wenn sich junge Leute Gedanken machen.

Frage: Und wie vermitteln Sie Jugendlichen den Begriff Europa?

Antwort: Für viele junge Menschen ist die EU der Eintritt in die
Welt, denken Sie an Erasmus (für das Studium im EU-Ausland). Und ohne
EU? Wenn Sie wie ich in der bayerischen Provinz oder sonstwo groß
werden, dann ist ihr Weg vorgezeichnet, Schule, Abi, studieren
irgendwo im Umkreis, und dann sucht man sich einen Job, weil man zu
Hause so gut leben kann. Die EU ist die Eintrittskarte in die große
weite Welt, das finde ich spannend. Das auszubauen, auch für die, die
abseits stehen, das ist die Herausforderung, die mich antreibt.

ZUR PERSON: Ismail Ertug wurde am 5. Dezember 1975 im bayerischen
Amberg geboren. Drei Jahre zuvor hatten seine Eltern die Türkei
verlassen. Der gelernte Industriekaufmann studierte
Betriebswirtschaft für Krankenkassen. Seine politische Arbeit begann
er bei den Jusos 1999. Von 2004 bis 2009 war er Mitglied im Amberger
Stadtrat. Seit 2009 ist Ertug Europaparlamentarier für die Oberpfalz
und Niederbayern und gehört der Sozialdemokratischen Fraktion an. Er
ist verheiratet und hat eine zweijährige Tochter.