Die Geschichte holt Merkel ein Von Georg Ismar, dpa

16.03.2015 15:10

Griechenland fordert Milliarden von Deutschland wegen Altlasten des
Zweiten Weltkriegs. Was wie Wortgeklingel in der Euro-Krise wirkt,
hat für Historiker und Völkerrechtler durchaus Berechtigung. Einer
wirft der Kanzlerin eine beschämende «Schlussstrich-Politik» vor.

Berlin (dpa) - Im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes schlummert
ein Dokument, das Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) noch viel Ärger
bereiten kann. Der Bericht «Wirtschaftsverwaltung in Griechenland
unter deutscher Besatzung» mit der Signatur R 27320 hat bereits zu
einem kleinen Historikerstreit geführt.

In der «Berliner Zeitung» schrieb der Historiker Götz Aly von
«griechischen Schuldenlegenden» - worauf Hagen Fleischer, der das
deutsch-griechische Verhältnis seit langem erforscht, im gleichen
Blatt erwiderte: «Die deutsche Schuld ist nicht beglichen.»

Vor allem führt das Dokument zu diplomatischen Verwerfungen zwischen
Athen und Berlin. Es geht um eine Anleihe, die die
Nationalsozialisten dem besetzten Griechenland 1942 auferlegt haben,
zur «Begleichung» von Besatzungskosten. Die Bundesrepublik als
Rechtsnachfolgerin sieht das Thema als erledigt an.

Denn sonst könnte eine ganz andere Debatte losbrechen, die um
Reparationen. Dann könnten auch andere Staaten neue Forderungen
erheben. Der griechische Staatspräsident Prokopis Pavlopoulos
kündigte am Montag in Athen an, er wolle alle rechtlichen Mittel zur
Begleichung noch offener deutscher Kriegslasten ausschöpfen.

«Da Kredite zurückgezahlt werden müssen und das Londoner
Schuldenabkommen von 1953 diese Kategorie von Ansprüchen nicht
eingeschränkt hat, kann es im Prinzip auch heute noch einen
Rückzahlungsanspruch geben», betont der Münchner Historiker Hans
Günter Hockerts, der sich intensiv mit dem Thema Wiedergutmachung
nach 1945 beschäftigt hat. Für den Forscher ist die Rückzahlung der
Anleihe die aussichtsreichste Forderung Griechenlands.

Es geht um 476 Millionen Reichsmark - aber schon dieser Betrag ist
umstritten. Aly verweist auf im Gegenzug erfolgte deutsche
Lebensmitteleinfuhren und Gold zur Stützung der Drachme; deutsche
Passiva und Aktiva seien nicht korrekt verbucht worden.

Für Athen - aber auch Linken-Fraktionschef Gregor Gysi - wären das
mit Zinsen heute rund elf Milliarden Euro, Hockerts geht eher von
fünf Milliarden aus. Er schlägt zur Befriedung einen
deutsch-griechischen Fonds vor - ohne Forderungen aus dem Krieg
offiziell anzuerkennen, könnte Deutschland sich erkenntlich zeigen.
«So käme man vielleicht aus dem schrecklich verkrampften Verhältnis
heraus, in dem man nur Rechnung und Gegenrechnung kennt.»

Die Debatte wirft ein Schlaglicht auf die grundlegende Frage, ob
Deutschland seine finanzielle Schuld wirklich abgegolten hat. Das
Thema «Zwangsanleihe» ist ein Sonderfall - auch ein Gutachten des
Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags zweifelt an, ob der Fall
wirklich finanziell als erledigt betrachtet werden kann.

Dahinter steht die viel größere Frage - die Athen auch aufwirft -, ob
das Thema Reparationen abschließend geklärt ist. Rein formal hat
Deutschland 2010 letzte Kriegsschulden getilgt - und damit für sich
dieses Kapitel finanziell abgeschlossen.

Bereits lange vor dem Sieg der linken Syriza-Partei von Alexis
Tsipras hatte Athen immer wieder versucht, den Spardruck der
deutschen Kreditgeber mit unbezahlten historischen Rechnungen zu
kontern. Merkel sagte dazu zum Beispiel im Juli 2013: «Wir schließen
uns dieser Rechtsauffassung nicht an.» Heißt: Alles erledigt, vor
allem durch den 2+4-Vertrag zur deutschen Einheit. Zudem wurde mit
Athen am 18. März 1960 ein Entschädigungsabkommen geschlossen: Es
flossen damals aber nur 115 Millionen D-Mark.

Ist Merkels Auffassung korrekt? Der Bremer Völkerrechtler Andreas
Fischer-Lescano findet die Argumentation «rechtlich untragbar» und
das Abblocken «beschämend». «Da wird mit unerbittlicher Härte ein
e
Schlussstrich-Politik verfolgt, weil ein Präzedenzfall befürchtet
wird.» Er sieht gerade in Sachen Anleihe beim Gang vor den
Internationalen Gerichtshof in Den Haag Erfolgschancen.

Sein Göttinger Kollege Frank Schorkopf meint dagegen im «Spiegel»,
alle Schuld sei abgegolten, Deutschland habe im Zuge der europäischen
Integration zweistellige Milliardenbeträge an Athen gezahlt. «Diese
Summe erreicht ohne weiteres die Höhe möglicher
Reparationszahlungen.» Für Fischer-Lescano ist das aber kein
juristisches Argument, sondern «ein Stammtischargument».

Die Frage von historischer Schuld und Wiedergutmachung ist eine
komplexe - die SS verübte schlimme Massaker in Griechenland, etwa im
Dorf Distomo 1944. 1946 hatte Griechenland nach Angaben des
Historikers Hockerts knapp 14 Milliarden Dollar an Reparationen
gefordert. Aber nach dem «Diktatfrieden» von Versailles 1919 und für

Deutschland kaum zu stemmenden Reparationsverpflichtungen, die den
Aufstieg Adolf Hitlers begünstigten, wollten die Westmächte diesen
Fehler nun nicht noch einmal wiederholen.

West-Deutschland wurde im aufziehenden Ost-West-Konflikt zudem als
Partner gebraucht - im Londoner Schuldenabkommen von 1953 wurde daher
ein Moratorium vereinbart, bis zu einer deutschen Friedenslösung.
Artikel 5, Absatz 2 legte fest, eine Prüfung der durch den Zweiten
Weltkrieg herrührenden Forderungen werde bis zur endgültigen Regelung
der Reparationsfrage zurückgestellt. Die Bundesrepublik brachte
stattdessen individuelle Regelungen auf den Weg, als erstes bekam
Israel drei Milliarden D-Mark.

Mit den westeuropäischen Ländern, darunter wie erwähnt 1960 auch
Griechenland, schloss man sogenannte Globalabkommen. Damit wurden
unter anderem Opfergruppen wie Juden finanziell entschädigt. Für
Athen war damit die Frage von Reparationen keineswegs erledigt.

Im 2+4-Vertrag (BRD, DDR - Sowjetunion, USA, Großbritannien,
Frankreich) wurde 1990 «die abschließende Regelung in Bezug auf
Deutschland» vereinbart. Statt einer Prüfung der Ansprüche wurde auch

das Thema Reparationen dabei für abgeschlossen erklärt. Im November
1990 nahmen Dutzende Staaten, auch Griechenland, in der KSZE-Charta
von Paris den 2+4-Vertrag und damit die Reparationsregelung begrüßend
«zur Kenntnis» - aber die Charta war kein völkerrechtlicher Vertrag,

Griechenlands Forderung blieb virulent. Doch das Dilemma Athens: Es
fehlten damals und es fehlen heute Mitstreiter für ein Aufrollen der
Reparationsfrage.

Denn Kanzler Helmut Kohl (CDU) schloss nach der Einheit auch mit
osteuropäischen Staaten Globalabkommen ab, es war die Zeit der großen
Scheckbuch-Diplomatie. Das müsse am Ende für Griechenland ja nicht
eine milliardenschwere Vollentschädigung sein, «aber eine Geste
beispielsweise durch Einrichtung eines Fonds ist wichtig», meint der
Rechtsprofessor Fischer-Lescano. «Die Ungleichheit in der
Entschädigungsfrage ist frappierend.»

Das ZDF-Magazin «frontal 21» wies zuletzt noch einmal auf ein sehr
wichtiges Dokument hin, das zeigt: Athen hat das Thema Reparationen
nicht erst jetzt in der Euro-Krise entdeckt, wo man sich von Merkel
gegängelt fühlt. In einer Verbalnote der Botschaft von 1995 an das
Auswärtige Amt heißt es unter Punkt II: «Griechenland hat nicht auf
seine Ansprüche auf Entschädigungen und Reparationen für während de
s
Zweiten Weltkriegs erlittene Schäden verzichtet.» Die Zeit sei reif
für die Ausarbeitung einer für beide Seiten akzeptablen Lösung. Die
Ansprüche gegen die andere Besatzungsmacht Italien seien bereits 1947
durch einen Friedensvertrag geregelt worden. «Die Ansprüche gegen
Deutschland sind jedoch offen geblieben». Das sind sie für Athen bis
heute.