Drei Kilometer, zwei Welten: Die EU und das Brüsseler Flüchtlingscamp Von Rebecca Krizak, dpa
22.09.2015 05:00
Während in Brüssel Flüchtlinge im Dreck campieren, diskutieren ein
paar Kilometer weiter Europas Politiker über den Umgang mit
Migranten. Doch was sagen die, über die geredet wird? Auf der Suche
nach Antworten in einem belgischen Flüchtlingscamp.
Brüssel (dpa) - Die Aufregung am Morgen war groß. «Einfach weg», sa
gt
der 30-jährige Mahmut und wirbelt mit den Händen ratlos in der Luft
herum. «Da habe ich Assad überlebt und die Reise hierher und dann
verschwindet einfach mein Personalausweis.» Dann lächelt der Mann aus
Syrien, knöpft die nasse Jacke auf und zieht seinen Ausweis hervor.
Jemand hat ihn gefunden, auf dem Boden vor der Essensausgabe.
Verblasste arabische Schriftzeichen auf noch blasserem Hintergrund.
Mehr ist Mahmut von Syrien nicht geblieben.
An dem Ausweis klebt Schlamm. Wie überall hier. Der Matsch hängt an
den Schuhen, den Fingern, den Zeltwänden in diesem improvisierten
Flüchtlingslager. Trotzdem: Wer hier im Parc Maximilien angekommen
ist, will erst einmal bleiben. Die vielen Zelte in dem Park in der
Nähe des Nordbahnhofs sind für rund tausend Flüchtlinge im Moment ihr
einziges Zuhause.
Die Menschen warten auf einen Termin beim Ausländeramt. Wer in
Belgien einen Asylantrag stellen will, muss sich zuerst dort melden.
Bis zum ersten Termin vergehen oft zwei Wochen. Schauen die
Mitarbeiter der Behörde aus dem Fenster, sehen sie die Menschen in
ihren Zelten. Doch solange sie nicht beim Amt vorgesprochen haben,
existieren die Flüchtlinge offiziell nicht. Die Behörden geben ihnen
während der Wartezeit kein Bett und nichts zu essen, beklagen die
Helfer vor Ort.
Auf dem Weg vom Camp zur U-Bahn wirbt eine Wohnungsbaugesellschaft:
«Urbanes Wohnen - 270 neue Appartements demnächst hier.» Fünf
Stationen sind es vom Park mit der U-Bahn ins EU-Viertel. Dort kommen
in dieser Woche erst die Innenminister, dann die Staats- und
Regierungschefs der Europäischen Union zusammen. Sie beraten über
eine mögliche Verteilung der Flüchtlinge unter den EU-Staaten und
darüber, die Länder der Krisenregionen zu stärken, damit die
Flüchtlinge dortbleiben und nicht den Weg nach Europa antreten.
Mahmut und sein Freund Ahmad wissen von diesen Diskussionen nichts.
Es hat aufgehört zu regnen. Die beiden sitzen auf Klappstühlen auf
der Wiese, ihre Handys in der Hand. Auf dem Rasen steht ein Funkmast.
Seit Tagen hatten sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie und ihren
Freunden in Syrien. Jetzt gibt es endlich Internet. Die beiden
Freunde wollen ihre vollständigen Namen nicht veröffentlicht sehen.
Zwanzig Tage haben sie von Syrien nach Belgien gebraucht. Mit dem
Boot kamen sie aus der Türkei nach Griechenland. Weiter über Serbien,
Ungarn und Deutschland. Bloß nicht auffallen, bloß nicht der Polizei
in die Hände geraten, das sei ihr Ziel gewesen, sagt der 25-jährige
Ahmad. «Jedes Mal mussten wir weiter hetzen. Und jetzt? Jetzt müssen
wir nur noch warten.» Seit einer Woche teilen sich die beiden ein
Zelt im Park.
Ihr Ziel war Belgien, hier leben Freunde. Würden sie auch in ein
anderes Land gehen, wenn man sie dazu zwingt? «Wir haben doch keine
Macht, natürlich würden wir gehen», sagt Ahmad. Nur in die Türkei
wollen sie auf keinen Fall zurück. «Das geht nicht, da ist es nicht
sicher», meint Mahmut.
«Die Menschen sind nicht hier, um Politik zu machen. Sie sind hier,
um zu überleben», sagt Marissel Mendez. Die Physikerin stapft mit
dicken Schuhen, einem kratzigen Wollpullover und Regenjacke an den
Zelten vorbei und verteilt zusätzliche Planen. Manche Zelte sind vom
Regen mittlerweile völlig durchweicht. Mendez ist eine von Hunderten
freiwilligen Helfern. Die Zelte, die Decken, das Essen - alles
Spenden.
Über den «Wahnsinn der Behörden» ist Mendez frustriert: «Brüsse
l soll
das Herz Europas sein, aber ich sehe hier niemanden mit Herz», sagt
sie und verschwindet im Zelt mit der Aufschrift «Neuankömmlinge».
Dort liegen Holzpaletten auf dem Boden, sie sollen vor dem Schlamm
schützen. Eine junge Familie aus Pakistan sitzt in der Ecke auf ein
paar Wolldecken. Sie sind gerade angekommen. Die Eltern starren
Mendez an, ohne sie zu sehen. Der Junge weint, das Mädchen guckt
neugierig zwischen den Zeltplanen nach draußen. Ein Helfer spielt
Gitarre in der offenen Küche. Menschen stehen um ihn herum. Wer den
Text kann, singt mit. «Freedom» von George Michael.
Jibran Taseer schiebt die Zeltplanen auseinander und lächelt das
Mädchen an. Der 30-jährige Pakistaner lebt seit zehn Tagen im Camp.
Er erklärt der Familie, wo sie schlafen kann und worauf sie achten
muss. Taseer ist aus Pakistan geflohen, weil er Christ ist. «Die
Verfolgung ist immer schlimmer geworden», sagt er nur auf die Frage,
was ihm in seinem Land gedroht habe. Dann guckt er weg.
Dass es in Ungarn und anderen EU-Ländern im Osten den Wunsch gibt,
nur christliche Flüchtlinge aufzunehmen, hat er gehört. «Aber stimmt
das wirklich?», fragt er und zieht die Augenbrauen hoch. Europa hatte
er sich anders vorgestellt. «Das wäre doch nicht viel besser als in
Pakistan.»
Mendez lässt die Familie mit Taseer alleine. «Sie sollen erst einmal
ankommen», sagt sie. Jeden Tag erreichen etwa 100 neue Menschen das
Camp. Neben dem Zelt für die Neuankömmlinge haben Anwälte, Ärzte, e
in
Friseur, Übersetzer und Sprachlehrer Stände aufgebaut. Sie wollen den
Flüchtlingen helfen, wenn es schon sonst niemand macht.
«Am Anfang hat es einen Tag gedauert, bis die Flüchtlinge ihren
Termin bei der Behörde hatten, dann zwei, dann drei und immer so
weiter», sagt Mendez. «Wo sollen sie denn hin? Was sollen sie
machen?» Die Brüsseler Regionalverwaltung hat das Problem zwar
erkannt, kann aber nicht viel ändern. Immerhin, ein leerstehendes
Hochhaus mit bis zu 500 Schlafplätzen hat sie geöffnet. Doch
eigentlich werden in Belgien alle Fragen zu Flüchtlingen auf
Bundesebene geregelt. Brüssel und die Zentralregierung streiten
deshalb darüber, wie sie weiter vorgehen sollen.
Die Helfer schaffen es, der Situation ein wenig von ihrem Elend zu
nehmen. Doch was passiert, wenn der Winter kommt? Mendez lacht auf.
«Bis dahin ist das hier vorüber.» Glaubt sie da wirklich dran? «Die
müssen was tun», sagt sie und deutet mit der Hand in Richtung
EU-Viertel. «Ich muss daran glauben, sonst werde ich verrückt.»