Deutsch-französischer Schulterschluss in der Flüchtlingskrise Von Sebastian Kunigkeit und Petra Klingbeil, dpa
07.10.2015 19:20
Die Forderungen sind altbekannt, doch das Symbol ist stark: Angela
Merkel und François Hollande werben im EU-Parlament für ein
offenes Europa. Und wehren sich dort gegen Angriffe von Rechts.
Straßburg (dpa) - Es ist der ganz große historische Bogen, den
Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande
im EU-Parlament schlagen. Als das letzte Mal zwei ihrer Vorgänger
gemeinsam vor den europäischen Volksvertretern sprachen, war gerade
die Berliner Mauer gefallen. Helmut Kohl und François Mitterrand
hätten im November 1989 «die sich abzeichnenden Umbrüche in
Deutschland und in Europa» gespürt, erinnert Merkel. «Die Überwindu
ng
des Gegensatzes von Ost und West hat sich als eine
gigantische Erfolgsgeschichte erwiesen.»
Die Botschaft ist klar und geschickt inszeniert: Europa kann
historische Herausforderungen bewältigen - damals wie heute, wo die
Flüchtlingskrise die Gemeinschaft spaltet. Es ist ein
symbolträchtiger Besuch des deutsch-französischen Duos im Straßburger
Parlament am Mittwoch. Angesichts zunehmender Sorgen über die Ankunft
Hunderttausender Schutzsuchender in Europa demonstrieren sie
Entschlossenheit.
Merkel und Hollande wählen starke Worte: «Gerade jetzt brauchen wir
mehr Europa», meint Merkel. Nur gemeinsam könne diese
«Bewährungsprobe historischen Ausmaßes» bewältigt werden.
«Abschottung und Abriegelung im Zeitalter des Internet sind eine
Illusion.»
Die Reaktionen auf den Appell fallen gemischt aus: Selten waren die
Stimmung im Plenarsaal so emotional, die Redebeiträge so lebhaft und
die Angriffe so scharf. Merkel und Hollande polarisieren - auch in
der Griechenlandpolitik und bei ihren Vorstellungen zur
Weiterentwicklung der Europäischen Union, vor allem aber beim
Flüchtlingsthema. Kritisch bis aggressiv sind die Kommentare von
EU-Skeptikern und Rechtspopulisten. Sie sind es auch, die während der
Reden Störversuche mit Zwischenrufen starten, jedoch zuweilen von der
Mehrheit des Hauses niedergezischt werden. Vor allem der Vorwurf,
Deutschland und Frankreich drückten dem Rest der EU ihren Willen auf,
kommt immer wieder.
Der ewige Spötter und britische Rechtspopulist Nigel Farage spart
nicht mit Respektlosigkeit. Er nennt den französischen Präsidenten
eine «Piepsmaus» im von Deutschland dominierten Europa und frohlockt,
der von ihm gewünschte EU-Austritt Großbritanniens werde damit
wahrscheinlicher. Ähnlich schonungslos formuliert die Vorsitzende der
rechtsextremen französischen Partei Front National (FN), Marine Le
Pen, die Hollande als «Vizekanzler» Angela Merkels und als «Verwalter
der Provinz Frankreich» tituliert. Le Pen versucht seit Wochen, aus
der Flüchtlingskrise Kapital zu schlagen.
Ermutigend dagegen die Kommentare bei Christdemokraten,
Sozialdemokraten und Liberalen: «Sie haben Mitgefühl, Verständnis und
Führung in der Flüchtlingskrise gezeigt», sagt der liberale
Fraktionschef Guy Verhofstadt an Merkel gerichtet auf Deutsch. «Und
das in einer Zeit, in der es an diesen allen drei Dingen mangelt in
Europa. Danke, Frau Bundeskanzlerin.»
Aus Hollande bricht es in dem seltenen direkten Schlagabtausch mit
der Chefin der in Umfragen vor seinen Sozialisten liegenden FN
schließlich heraus: «Wenn Sie nicht von Europa überzeugt sind»,
wandte er sich direkt an die Rechten, «dann treten Sie doch gleich
aus Europa, aus dem Euro und aus Schengen aus, und vielleicht auch
gleich aus der Demokratie.» Der Applaus ist lang - im europäischen
Plenarsaal haben der Sozialist Hollande und die Christdemokratin
Merkel eine klare Mehrheit.
Ob die Botschaft auch außerhalb des Parlaments ankommt, muss sich
zeigen. Merkel hofft, dass die historische Perspektive Ängste nimmt:
«Viele sahen die Freizügigkeit für Millionen neue EU-Bürger als
Bedrohung für den eigenen Arbeitsplatz», sagt sie. «Heute erkennen
wir, dass sich diese Kraftanstrengung für uns alle gelohnt hat.»