Alexis Tsipras: Vom Revoluzzer zum Reformer Von Alexia Angelopoulou und Takis Tsafos, dpa

24.01.2016 11:15

Bei seinem Amtsantritt vor einem Jahr galt Alexis Tsipras als
Shooting-Star der europäischen Linken. Seither hat er sich angepasst
- und damit verhindert, dass sein Land pleitegeht. Doch mit
Finanzminister Schäuble hat er noch keinen Frieden geschlossen.

Athen (dpa) - Zwölf Monate voller Wirren und Schwierigkeiten liegen
hinter dem griechischen Regierungschef Alexis Tsipras und seiner
Links-Rechts-Regierung. Und sehr viel Streit. Streit vor allem mit
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Viele Herausforderungen
bleiben: Die drohende Pleite des Landes ist noch nicht abgewendet,
die Gespräche mit den Geldgebern sind schwierig, die Flüchtlingskrise
ist eskaliert. Und Tsipras selbst? Seit seinem Wahlsieg, der sich an
diesem Montag jährt, hat er eine 180-Grad-Wende vollführt.

«Sobald wir an der Macht sind, werden wir das Sparprogramm beenden
und die EU erneuern!», hatte Tsipras seinen Wählern versprochen. Auf
der Suche nach Unterstützern machte er sich nach seinem Wahlsieg am
25. Januar 2015 - die Linkspartei Syriza kam damals auf 36,3 Prozent
- zunächst auf den Weg zu seinen europäischen Wunschpartnern. Sie
wollte er für eine «Front der Südländer» gewinnen.

Das war bereits die erste Fehleinschätzung des jungen Premiers.
Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi klopfte ihm freundlich auf
die Schulter, schenkte ihm eine Krawatte und verwies darauf, dass
Versprechen in Europa eingehalten werden müssten. Ähnliches hörte
Tsipras vom französischen Staatschef François Hollande. Und die
Südländer Spanien und Portugal wollten mit dem griechischen
Revoluzzer erst gar nicht in Verbindung gebracht werden.

Die Verhandlungen mit der in Griechenland verhassten Troika - also
den Europartnern, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der
Europäischen Zentralbank (EZB) - überließ Tsipras in seiner Regierung

zunächst seinem Minister Gianis Varoufakis. Der promovierte
Spieletheoretiker trieb die internationalen Verhandlungspartner mit
seinen wirtschaftspolitischen Ausschweifungen konsequent in den
Wahnsinn und verspielte damit auch noch die letzten Sympathie-Werte.

Das kann Finanzminister Schäuble wohl nicht vergessen. Bei jeder
Gelegenheit erinnert er Tsipras an seine Verpflichtungen: Er müsse
die Auflagen umsetzen. Erst beim Weltwirtschaftsforum in Davos
herrschte jüngst wieder dicke Luft zwischen den beiden Politikern.
Schäuble ließ die Bemerkung fallen: «It's the implementation,
stupid!» Eine Anspielung auf den berühmten Wahlkampf-Spruch
von Ex-US-Präsident Bill Clinton («It's the economy, stupid!»).

Eine Schäuble-Sprecherin musste am Tag danach in Berlin auf Anfrage
griechischer Medien klarstellen: «Das war in keiner Weise als
Beleidigung gedacht.» Der Minister habe die Clinton-Redensart so
verdichtet, um aufzuzeigen, dass Europa politisch und wirtschaftlich
handeln müsse und Absprachen gelten müssten. Auch das Büro Tsipras'
bemühte sich zähneknirschend um Deeskalation. «Wir haben es nicht als

eine Beleidigung empfunden», hieß es in einer Erklärung in Athen.

Die Vorgeschichte dieses Konflikts ist lang. Das Kalkül des einstigen
Duos Tsipras-Varoufakis, die Europartner würden Athen unbegrenzt
unterstützen, um ein Zusammenbrechen der Währungsunion zu verhindern,
ging nicht auf. Die europäischen Verhandlungsführer schalteten
angesichts der starrköpfigen Griechen auf stur und stellten im Mai
2015 die weitere finanzielle Unterstützung des Landes ein. Bald
konnte Athen seinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen, die Kassen
waren leer.

Und plötzlich ging es Schlag auf Schlag: Varoufakis wurde als
Verhandlungspartner abgezogen. Weil die Griechen aus Angst vor der
Staatspleite Gelder in Milliardenhöhe ins Ausland überwiesen, führte

Tsirpas Kapitalverkehrskontrollen ein. Mit einem Blitzreferendum ließ
er seine Bürger über ein neues, von der EU diktiertes Sparprogramm
abstimmen. Obwohl 61,3 Prozent der Griechen mit Nein stimmten,
unterschrieb Tsipras im Juli in Brüssel das härteste Reformprogramm,
das jemals auf dem Tisch gelegen hatte. Damit sicherte er
Griechenland Finanzhilfen in Höhe von 86 Milliarden Euro.

Mit breiter Unterstützung aller pro-europäischen Parteien im
griechischen Parlament wurde das Programm anschließend gebilligt.
Gleichzeitig aber wendete sich der linke Syriza-Flügel von Tsipras
ab. Um die Abweichler in seiner Partei loszuwerden, erzwang der
Regierungschef mit seinem Rücktritt Neuwahlen, die er zur allgemeinen
Verwunderung am 20. September 2015 mit 35,5 Prozent gewann.

Seither regiert Tsipras wie gehabt in einer Koalition mit der kleinen
rechtspopulistischen Partei der Unabhängigen Griechen (Anel). Doch
seine Probleme sind nicht weniger geworden - im Gegenteil. Die
härtesten Einschnitte stehen jetzt erst bevor: die umfassende Reform
des Renten- und Sozialversicherungssystems sowie die Steuerreform.
Gegen beide Vorhaben läuft die Bevölkerung Sturm. Anwälte und Notare

proben auf den Straßen Athens regelmäßig den Aufstand, Staatsdiener
streiken allerorten und Bauern kommen mit ihren Traktoren in die
Hauptstadt, wenn sie nicht gerade wichtige Autobahnen besetzen.

Hinzu kommt die Flüchtlingskrise - hier steht Tsipras in der Kritik,
versprochene Registrierungszentren nicht eingerichtet und die
EU-Außengrenze nicht ausreichend geschützt zu haben. Athen kontert,
man könne schutzsuchende Menschen nicht einfach im Meer ertrinken
lassen. Die Herausforderungen nehmen also kein Ende, doch auch in
Griechenland feiert man die Feste, wie sie fallen. Weil Syriza seit
einem Jahr regiert, lud der Regierungschef für Sonntag zu einem
großen Fest in eine Athener Sportarena. Und am Montag geht es dann
weiter mit der Herkules-Aufgabe, das Land aus der Krise zu holen.