Athen wehrt sich gegen Druck: «Sollen wir Menschen ertrinken lassen?» Von Takis Tsafos und Alexia Angelopoulou, dpa
24.01.2016 16:25
In der Flüchtlingskrise fordern erste Politiker einen Ausschluss
Griechenlands aus dem europäischen Schengen-Raum. Wie das Land seine
Seegrenze zur Türkei schützen soll, verraten sie dabei nicht.
Athen (dpa) - Vor knapp zwei Monaten vereinbarten die Europäische
Union (EU) und die Türkei, dass Ankara den Flüchtlingszustrom nach
Griechenland unterbindet. Die aktuellen Zahlen jedoch sprechen eine
andere Sprache. In den ersten drei Wochen des neuen Jahres gingen in
Griechenland 35 455 Flüchtlinge und Migranten an Land, 94 Menschen
verloren bei der gefährlichen Überfahrt ihr Leben. Allein am Freitag
starben mindestens 45 Menschen, darunter 17 Kinder. Nun fordern
Politiker aus anderen EU-Staaten einen Ausschluss Griechenlands aus
dem Schengen-Raum. Für Athen ein Armutszeugnis in Sachen Solidarität.
Was jeder Rettungsschwimmer weiß, scheine bei den Betreffenden noch
nicht angekommen zu sein, heißt es in Athen: Auf hoher See ist man
verpflichtet, Schiffbrüchigen zu helfen. Deshalb statten Schleuser
Flüchtlinge vor Reiseantritt mit Werkzeugen aus, um ihre Boote zu
versenken, sobald die Küstenwache oder die Marine in Sichtweite sind.
Bei Schlauchbooten reichen ein paar Stiche mit dem Messer, und auch
alte Holzkutter lassen sich problemlos leckschlagen.
Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner ist dennoch der
Ansicht, es sei ein Mythos, dass die griechische Seegrenze zur Türkei
sich nicht kontrollieren lasse. In der «Welt am Sonntag» forderte sie
den vorrübergehenden Ausschluss Griechenlands aus dem Schengen-Raum,
wenn das Land «nicht endlich mehr» für die Sicherung der
EU-Außengrenze unternehme. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann
(CSU) stieß in Sofia bei einer Sicherheitskonferenz ins selbe Horn.
Dem griechischen Außenminister Nikos Kotzias platzte nun der Kragen.
In einem Gespräch mit der Berliner «Tageszeitung» (taz) stellte er
klar: «Wenn wir die Flüchtlinge stoppen wollten, müssten wir Krieg
gegen sie führen. Wir müssten sie bombardieren, ihre Boote versenken
und die Menschen ertrinken lassen.»
Auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SDP) kritisierte
die Drohung. «Scheinlösungen wie der Ausschluss einzelner Staaten aus
dem Schengen-Raum bringen niemanden weiter», sagte er den Zeitungen
der Funke Mediengruppe. EU-Flüchtlingskommissar Dimitris Avramopoulos
versicherte im griechischen TV-Sender Mega, es gebe «natürlich
keinen» Plan zum Ausschluss der Griechen aus dem Schengen-Raum.
Für die Regierung in Athen steht fest, dass die von der Türkei
zugesagte Kontrolle der Flüchtlinge nicht funktioniert. Die Türkei
halte ihre Versprechen gegenüber Europa nicht ein, hieß es in einer
am Samstag veröffentlichten Erklärung des Migrationsministeriums in
Athen. Griechenland fordert zudem, die Flüchtlinge direkt aus der
Türkei, Jordanien und dem Libanon nach Europa umzusiedeln und die
versprochene schnelle Umsiedelung der bereits in Griechenland
eingetroffenen Flüchtlinge sofort umzusetzen.
Aus Athener Regierungskreisen heißt es auch, die Türkei habe die
Visumspflicht für Bürger jener Staaten aufgehoben, aus denen
Migranten kämen, die ihre Heimat aus wirtschaftlichen Gründen
verließen. So kämen inzwischen zunehmend Marokkaner und Algerier an
den griechischen Inseln an. In Athen wird vermutet, dass Ankara die
Trumpfkarte «Kontrolle des Flüchtlingszustroms» weiterhin ausspielen
will, um eigene Interessen in den Beziehungen zur EU durchzusetzen.
Da die EU mit Ankara nicht vorankomme, konzentrierten sich die
Schuldzuweisungen nun wieder auf Griechenland, ist man in Athen
überzeugt. So forderte Ungarns rechtskonservativer Regierungschef
Viktor Orban etwa, Griechenland solle im Norden Zäune ziehen.
«Wer fordert, die Seegrenzen zu schützen, weiß nicht, von was er
redet», sagt ein Offizier der griechischen Küstenwache, der täglich
verzweifelte Menschen aus den eisigen Fluten der Ägäis rettet, der
Deutschen Presse-Agentur. «Die Flüchtlinge werden kommen, ob die
Rechtspopulisten es wollen oder nicht. Sie werden auch neue Grenzen
überwinden.» Die Schleuser suchten schon längst nach anderen Wegen,
etwa über Albanien oder die Adria und das Ionische Meer nach Italien.
«Was wäre dann?», fragt er und fügt hinzu: «Sollen wir dann neu
e
Zäune im Norden Italiens ziehen?»
Die Frage, wie es nach der Schließung aller möglichen Grenzen und
einem Schengen-Ausschluss Griechenlands weitergehen soll, wird nicht
beantwortet. Seit das Balkanland Mazedonien seine Grenzen für alle
Menschen dichtgemacht hat, die nicht als Kriegsflüchtlinge, sondern
als «Wirtschaftsmigranten» gelten, nimmt deren Zahl in Griechenland
täglich zu - ausgerechnet in einem der finanziell schwächsten Länder
der EU. In Athen fragt man sich deshalb immer öfter, ob Griechenland
womöglich zu Europas Auffanglager für Migranten werden soll.