Flüchtlingen in Griechenland droht humanitäre Katastrophe Von Alexia Angelopoulou, dpa
28.02.2016 13:56
Nur wenige Tage haben die Länder entlang der Balkanroute ihre Grenzen
geschlossen, und schon eskaliert die Flüchtlingssituation in
Griechenland. Die EU arbeitet an einem Plan für humanitäre Hilfe.
Athen (dpa) - «Öffnet die Grenze!» - «Helft uns!» - «Freiheit!
»,
skandieren die Flüchtlinge an der griechisch-mazedonischen Grenze.
Rund 7000 Menschen haben sich dort mittlerweile eingefunden in der
Hoffnung darauf, weiterreisen zu dürfen. Ihre Versorgung mit
Nahrungsmitteln und Wasser ist schon längst nicht mehr gesichert, so
wie im Rest des Landes auch. Die Auffanglager von Lesbos über Athen
bis in den Grenzort Idomeni sind heillos überfüllt. Mehr als 25 000
Flüchtlinge und Migranten stauen sich in Griechenland, seit die
Länder der Balkanroute vor einigen Tagen ihre Grenzen geschlossen
haben. Das Land sei «ein einziger großer Hotspot», heißt es in Athe
n.
Gut 500 Meter lang ist die Schlange am frühen Sonntagmorgen bei der
Essensausgabe im Grenzort Idomeni. Geduldig stehen die Menschen an,
kleine Kinder, junge Männer, Mütter mit Babys auf dem Arm, alte Leute
am Stock. Die Müdigkeit und die Anstrengungen der Reise stehen ihnen
ins Gesicht geschrieben. Manche harren bereits seit Tagen an der
Grenze aus. Das Auffanglager dort bietet lediglich Platz für 1500
Menschen, alle anderen schlafen im Freien und versuchen, sich nachts
an Lagerfeuern zu wärmen.
Immer wieder kommt es zum Gerangel um Nahrungsmittel, um Decken,
Zelte und Schlafplätze. Auch der Müll wird zunehmend zum Problem -
die umliegenden Gemeinden sind auf die zusätzlichen Mengen Abfall
nicht eingerichtet. Medizinische Versorgung ist ebenfalls kaum
gegeben. Freiwillige und Mitglieder der Organisation Ärzte ohne
Grenzen versuchen, die Menschen zu behandeln; vor allem Alte und
Kinder leiden. Griechische Medien berichten von Kleinkindern mit
Durchfall und Fieber und von Eltern, die keine Medikamente auftreiben
können.
Dennoch reißt der Zug der Migranten gen Norden nicht ab - und entlang
der Strecke ist die Situation ähnlich verzweifelt wie an der Grenze
zu Mazedonien. In Trecks marschieren die Menschen zu Fuß über die
Autobahn; Busse fahren kaum mehr Richtung Mazedonien, um die
Situation an der Grenze unter Kontrolle zu halten.
Stattdessen werden die Flüchtlinge im ganzen Land notdürftig
untergebracht: Auf den Inseln bleiben die großen Fähren in den Häfen
liegen, so dass die Menschen dort übernachten können. Am Hafen von
Piräus schlafen sie ebenso wie in kurzfristig geöffneten Kasernen der
Armee und am alten Athener Flughafen «Ellinikon». Entlang der Strecke
Richtung Norden öffnen Gemeinden ihre Turnhallen und Schwimmbäder,
Parkplätze und Tankstellen werden vorübergehend zur Bleibe.
Hilfsorganisationen und die griechische Bevölkerung versuchen,
ausreichend Nahrung, Wasser, Decken und Kleidung bereitzustellen.
Derzeit gelangen täglich rund 3000 Menschen von der türkischen Küste
zu den griechischen Inseln. Halten die Länder entlang der Balkanroute
an ihrem Beschluss fest, täglich höchstens 580 Menschen passieren zu
lassen, ergibt sich bis zum Juni 2016 eine Zahl von rund 200 000
Menschen, die in Griechenland feststecken. Das wären pro Kopf mehr
Flüchtlinge, als Deutschland 2015 geschultert hat - in einem Land,
das seit sechs Jahren in einer tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise
steckt.
Seit Freitag arbeitet die EU griechischen Medienberichten zufolge
gemeinsam mit Griechenland an einem Notfallplan für humanitäre Hilfe,
darunter finanzielle Mittel und Unterstützung bei der Versorgung der
Menschen. Um 228 Millionen Euro habe Athen Brüssel gebeten, berichtet
die griechische Tageszeitung «Kathimerini» in ihrer Sonntagsausgabe.
Gedacht sei das Geld für die Einrichtung weiterer Notunterkünfte
sowie die Versorgung der Menschen. Auch ein System mit Coupons, bei
dem Privatleute und Hotels den Flüchtlingen Unterkunft gewähren
könnten, ist demnach im Gespräch.
Dabei wollen die Flüchtlinge selbst gar nicht in Griechenland
bleiben; auf die Frage, wohin ihre Reise geht, antworten die meisten
«Deutschland». An den zentralen Athener Plätzen Viktoria und Omonia
hat sich bereits ein reger Schleuser-Betrieb entwickelt; hier sammeln
sich Flüchtlinge, um einen Weg zur Weiterreise zu finden. Die
Angebote der Schlepper reichen von Trips über Albanien nach
Mitteleuropa bis hin zur Adria und dem Ionischen Meer nach Italien.
Kostenpunkt: zwischen 2500 und 3000 Euro. Die meisten Flüchtlinge
jedoch haben weder die Mittel, noch die Möglichkeit. Viele trauen den
Schleusern nicht, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben;
Familien mit Kindern können die langen Fußmärsche nicht bewältigen.
Mit dem Flüchtlingszustrom schlagen auch die politischen Wellen hoch.
«Wenn der EU-Sondergipfel am 7. März zu keinem Ergebnis kommt, sind
wir auf dem besten Weg in die Katastrophe», sagt der
EU-Migrationskommissar und ehemalige griechische Minister Dimitris
Avramopoulos. «Ohne die EU geht es nicht», betont auch
Ministerpräsident Alexis Tsipras. Und der griechische Vizeminister
für Migration, Ioannis Mouzalas, verweist im Interview darauf, dass
es die mitteleuropäischen Länder gewesen seien, die die
Kriegsflüchtlinge im vergangenen Jahr eingeladen hätten. «Sonst wär
en
die Menschen gar nicht erst nach Griechenland gekommen.»
Entrüstung ruft vor allem die harte Haltung Österreichs hervor. Vor
dem österreichischen Konsulat in Athen demonstrierten am Samstag rund
1000 Menschen gegen die Grenzpolitik des Landes. Österreich stachele
die anderen Länder der Balkanroute an, die Grenzen geschlossen zu
halten. Immer wieder äußern griechische Politiker mittlerweile die
Drohung eines allumfassenden Vetos, was EU-Entscheidungen betrifft.
So könnte Griechenland beispielsweise mögliche Aufnahmegespräche der
Balkanländer in die EU torpedieren.
Mit der Zunahme der Flüchtlingszahlen schwindet auch die Hoffnung des
von der Finanzkrise schwer gebeutelten Landes auf eine
wirtschaftliche Erholung. So verzeichnen die Inseln der Ostägäis im
Vergleich zum Vorjahr bereits einen dramatischen Einbruch an
Buchungen und eine Zunahme der Stornierungen von Touristen. Viele
Griechen sind mittlerweile davon überzeugt, sich direkt auf dem Weg
in die Katastrophe zu befinden. Die Flut der schlechten Nachrichten
aus der Kombination Finanz-, Wirtschafts- und Flüchtlingskrise reißt
nicht ab, im Gegenteil: Täglich kommen neuen Hiobsbotschaften hinzu.