Warum ist das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei so umstritten? Von Claudia Kornmeier und Martina Herzog, dpa

17.03.2016 05:40

Die Balkanroute ist dicht. Viele Flüchtlinge sitzen in Griechenland
fest - und nur wenig weitere sollen kommen. Dafür setzt die EU auf
Abschreckung und die Türkei. Ist der geplante Deal mit Ankara
rechtens?

Brüssel (dpa) - Die Flüchtlingskrise setzt Europa und Bundeskanzlerin
Angela Merkel enorm unter Druck. Erleichterung soll ein Abkommen mit
der Türkei bringen. Doch die geplante Vereinbarung ist auf lautstarke
Kritik bei Asylorganisationen und Menschenrechtlern gestoßen. Auch
das UN-Flüchtlingshilfswerk meldete Zweifel an. Doch die
EU-Kommission ist zuversichtlich: Die rechtlichen Bedenken ließen
sich ausräumen. Ein Überblick.

Was sieht die geplante Flüchtlingsvereinbarung zwischen der EU und
der Türkei vor?

Für jeden Syrer, der von den griechischen Inseln zurück in die Türkei

geschickt wird, nimmt die EU einen anderen Syrer aus der Türkei auf.
Dies soll Migranten davon abhalten, mit Hilfe von Schleppern nach
Griechenland zu kommen - denn damit würden sie ihre Chancen auf eine
Zukunft in Europa aufs Spiel setzen. Wer unerlaubt auf die
griechischen Inseln kommt, soll zunächst nicht für eine Aufnahme in
der EU in Frage kommen. Migranten aus anderen Staaten würden
ebenfalls in die Türkei zurückgeschickt, egal ob es um
Bürgerkriegsflüchtlinge geht oder um Menschen, die aus
wirtschaftlicher Not ihre Heimat verlassen haben.

Wie soll das gehen - es gibt doch ein Recht auf Asyl?

Das Schlüsselwort heißt «sicherer Drittstaat». Damit Griechenland
Flüchtlinge in die Türkei zurückschicken kann, muss es das Land
zunächst als solchen anerkennen. Das hat Athen in die Wege geleitet.
Die EU als Ganzes müsste das nicht ausdrücklich unterschreiben.

Was würde das konkret bedeuten?

Nach europäischem Recht gibt es zwei Möglichkeiten für ein EU-Land,
diese Einstufung zu machen - mit unterschiedlichen Folgen für das
Asylverfahren. Dabei gilt: Im ersten Fall sind die Anforderungen an
das Drittland hoch und die Ausweisung ist relativ leicht. Im zweiten
Fall ist die Anerkennung als sicherer Drittstaat einfacher, dafür hat
der Asylbewerber mehr Rechte.

Welches Verfahren hat die EU in diesem Fall im Blick?

Sie will den zweiten Fall anwenden und damit die Latte für die Türkei
weniger hoch legen. Für die Anerkennung müsste das Land die Genfer
Flüchtlingskonvention nicht in vollem Umfang unterzeichnet haben,
sondern Flüchtlingen lediglich Schutz «gemäß» der Konvention
gewähren. Ob das so ist, muss Griechenland klären. Es sei nicht an
EU-Juristen, das zu entscheiden, meint ein EU-Mitarbeiter. Die Türkei
hat die Lebensumstände für Syrer zuletzt verbessert, zum Beispiel hat
sie Möglichkeiten für legale Arbeit geschaffen.

Was bedeutet das für Asylbewerber?

Sie haben Anspruch darauf, dass Griechenland ihren Einzelfall prüft.
Eine Ausweisung könnten sie verhindern, wenn die Türkei für sie doch

nicht sicher ist. Sie müssen die Möglichkeit haben, ihr Anliegen auch
vor Gericht zu bringen. Syrische Kurden könnten zum Beispiel auf den
Konflikt zwischen der Regierung und der kurdischen Minderheit in der
Türkei verweisen. «Es kann keine Pauschal-Rückführungen geben»,
unterstreicht der Vizepräsident der EU-Kommission Frans Timmermans.

Ginge das alles noch einfacher?

Ja. Aber dafür müsste die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention
ohne Einschränkungen unterzeichnet haben. Doch das Land sieht
umfassenden Schutz inklusive Asyl nur für Flüchtlingen aus Europa
vor. Hintergrund für diese Regelung war die Situation nach dem
Zweiten Weltkrieg. Allen übrigen Schutzsuchenden erlaubt das Land nur
einen «vorübergehenden» Aufenthalt, bis sie in ein anderes Land
umgesiedelt werden können.

Wie schnell könnten Migranten wieder zurückgeschickt werden?

Das wird von den Kapazitäten der griechischen Behörden und Gerichte
abhängen und davon, wie viel Unterstützung sie von der EU bekommen.
Ein EU-Diplomat berichtet, in seinem Heimatland sei ein Asylverfahren
binnen 48 Stunden abgeschlossen.

Menschenrechtler verdammen die geplante Vereinbarung als schlechten
Deal für Flüchtlinge. Könnte die Abmachung am Ende vor Gericht
landen?

Ja. Einzelne Flüchtlinge könnten vor Gericht die Frage aufwerfen, ob
die Türkei überhaupt die Voraussetzungen für die Anerkennung als
sicherer Drittstaat erfüllt. Im Zweifel würde ein griechisches
Gericht die Frage dann dem EU-Gerichtshof vorlegen.
Menschenrechtsorganisationen könnten solche Klagen unterstützen.

Doch für die EU ist das vielleicht gar nicht so wichtig. Ein
EU-Diplomat weist auf die Dauer eines solchen Rechtsstreits hin. Bis
ein Urteil fallen würde, hätte die Regelung längst ihre abschreckende

Wirkung entfaltet und Flüchtlinge würden kaum noch versuchen, die
griechischen Inseln zu erreichen, so die Hoffnung.

Kommen Flüchtlinge dann überhaupt noch legal nach Europa?

Ja. Es gibt mehrere Möglichkeiten. Syrer, Iraker oder Afghanen
könnten aus der Türkei oder anderen Staaten wie dem Libanon in die
EU umgesiedelt werden. Dafür gibt es Programme einiger EU-Staaten.
Staaten wie Italien fürchten auch eine Verlagerung der Fluchtrouten -
denn bei der Abmachung mit der Türkei geht es nur um die griechischen
Inseln. Die Migranten könnten versuchen, über die Landgrenze aus der
Türkei nach Bulgarien zu kommen. Auch die Überfahrt aus Libyen oder
anderen nordafrikanischen Ländern wäre eine Möglichkeit.