Reise der Signale - von goldenen Buchstaben bis zu einem dicken Fell Von Can Merey und Kristina Dunz, dpa
24.04.2016 12:48
Der Besuch der Kanzlerin dauert nur ein paar Stunden, für Gespräche
mit Flüchtlingen bleiben nur Minuten. Für den Zusammenhalt von EU und
Türkei ist es aber ein wichtiger Tag.
Gaziantep (dpa) - Die syrischen Kinder kleben förmlich am Zaun des
Flüchtlingslagers im südosttürkischen Nizip, einige sind auf ein
Spielgerüst geklettert, um besser sehen zu können. So eine
Abwechslung vom Camp-Alltag hatten sie noch nie. Auf der Hügelkette
neben dem Lager stehen Panzerfahrzeuge und Soldaten, um den hohen
Besuch zu schützen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und der türkische
Ministerpräsident Ahmet Davutoglu kommen am Samstag vorbei - wenn
auch nur für 30 Minuten.
Zwei Busse mit dem Siegel des Ministerpräsidenten fahren ein,
obendrauf martialische Personenschützer mit Schnellfeuergewehren.
Drei Armeehubschrauber haben den Konvoi vom etwa 50 Kilometer
entfernten Flughafen der Stadt Gaziantep aus begleitet, wo Merkel,
EU-Ratspräsident Donald Tusk und Vizekommissionschef Frank Timmermans
gelandet sind. Vier syrische Flüchtlingsmädchen bilden das
Empfangskomitee, sie sind in die Tracht von Tscherkessinnen gekleidet
und überreichen den Besuchern bunte Blumen.
Der Vater von zwei der Mädchen heißt Mohammed Tomok. Mit seinem Enkel
leben drei Generationen seiner Familie in dem Flüchtlingslager. «Es
ist sehr gut hier», sagt Tomok und streckt seinen Daumen nach oben.
Was sich der 48-Jährige aus Damaskus vom Merkel-Besuch wünscht,
erscheint ein bisschen viel auf einmal: «Ich hoffe, dass Europa und
Amerika Frieden in meinem Land schaffen.» Er sei Pilot in der
syrischen Luftwaffe gewesen und desertiert. «Ich kann niemanden
töten», sagt er. «Ich will Frieden.» Am Abend rauscht Merkel wieder
ab. Am Sonntag empfängt sie US-Präsident Barack Obama in Hannover.
Tiefergehende Gespräche mit Flüchtlingen über deren verzweifelte Lage
sind deshalb kaum möglich. Es bleibt aber Zeit und Raum für
Symbolpolitik. In Gaziantep hat die Union Europäisch-Türkischer
Demokraten (UETD) eine ganze Menge Plakate mit Merkel aufhängen
lassen. «Wir sind stolz auf unsere Kanzlerin Frau Angela Merkel und
unseren Ministerpräsidenten Herrn Ahmet Davutoglu», steht dort auf
Deutsch.
Die UETD steht der türkischen Regierungspartei AKP nahe und
organisiert die Auftritte von Präsident Recep Tayyip Erdogan in
Deutschland. Der ungewohnte UETD-Applaus für Merkel zeigt, wie eng
Ankara und Berlin wegen der Flüchtlingskrise zusammengerückt sind. Zu
eng, wie viele Deutsche meinen. Es ist von Kuschen und deutscher
Abhängigkeit die Rede.
Merkel will mit dem Besuch das Signal aussenden, dass der Mitte März
geschlossene EU-Türkei-Pakt funktioniert. Abschiebungen von den
griechischen Inseln in die Türkei sind das eine, die europäische
Hilfe für die Flüchtlinge in der Türkei mit zunächst drei Milliarde
n
Euro das andere. Dabei gibt es durchaus ungelöste Fragen. Etwa die
Umsetzung der Vorgaben für die Türkei, um die in Aussicht gestellte
Visumfreiheit zu bekommen, und Schutzzusagen für nicht-syrische
Flüchtlinge - zunächst Afghanen und Iraker. Davutoglu zeigt sich aber
sicher: Die Bewältigung der Flüchtlingskrise werde einmal «in
goldenen Buchstaben» in die Geschichtsbücher eingehen.
Die Besucher aus Berlin und Brüssel zollen der Türkei - die nach
Regierungsangaben 2,7 Millionen Syrer aufgenommen hat - viel Respekt
für ihre Flüchtlingspolitik. Beeindruckt sagt Tusk: «Die Türkei ist
heute das beste Beispiel in der Welt dafür, wie wir mit Flüchtlingen
umgehen sollten. Keiner hat das Recht, die Türkei zu belehren.» Die
Flüchtlingspolitik gehört zu den wenigen Bereichen, für die die
Türkei international noch Anerkennung erfährt. Zum Komplex Erdogan
und Pressefreiheit hat er noch eine andere Botschaft. Der Umgang
Ankaras mit der Meinungsfreiheit, der in Deutschland zuletzt geradezu
eine Staatsaffäre auslöste, bereitet vielen in der EU Sorgen.
Der Satiriker Jan Böhmermann verlas ein vulgäres Gedicht über Erdogan
vor. Nun verklagt der Präsident den Mann. Merkel bekennt sich kurz
vor ihrem Türkei-Besuch zu dem Fehler, dass sie Böhmermanns Zeilen
früh und ohne Not als «bewusst verletzend» eingestuft hat. Damit sei
der Eindruck entstanden, sie verteidige nicht mehr so entschieden wie
früher die Meinungs- und Pressefreiheit. «Und dass so eine Situation
entstehen kann, wo gedacht wird, das würde jetzt aufgegeben, weil wir
gerade mal mit der Türkei ein Abkommen gemacht haben, das ist
fehlerhaft gewesen.»
Das hat es in ihrer bald elfjährigen Kanzlerschaft selten gegeben.
Sicher kein Zufall sein, dass sie just vor ihrem Türkei-Besuch diese
Wende vollzieht. Eine Kanzlerin, die wegen der Flüchtlingskrise unter
Druck steht, deren Umfragewerte sinken und die wegen eines Paktes mit
der Türkei Erpressbarkeit vorgeworfen wird, stellt sich vor die
Kameras und gibt einen Fehler zu. Wohl auch ein Zeichen der Stärke.
Und eine Botschaft an die Türkei: Merkel geht ihren eigenen Weg.
Ganz unverhofft bekommt sie in Gaziantep die volle Unterstützung von
Tusk. Er erzählt aus seiner Zeit als Aktivist der polnischen
Opposition vor 30 Jahren: «Ich wurde ins Gefängnis gesteckt, weil ich
das herrschende Regime kritisiert hatte.» Seinem «Freund Erdogan» sei
etwas Ähnliches später in der Türkei passiert. «Als Politiker habe
ich gelernt, mir ein dickes Fell zuzulegen», sagt Tusk. Die Grenze
zwischen Kritik, Beleidigung und Diffamierung sei sehr fein. Wenn
Politiker anfingen, eine Entscheidung für andere zu fällen, sei das
das Ende der Pressefreiheit.