Zielfahnder und Telefonüberwachung - Prozess gegen Diebesbanden Von Andreas Rabenstein und Anne Baum, dpa
20.05.2016 08:00
Sie arbeiten schnell und am liebsten in Großstädten. Auf der Suche
nach Portemonnaies und Handys greifen Taschendiebe in Rucksäcke und
Handtaschen. Organisierte Banden aus dem Ausland machen es der
Polizei schwer. Ermittler konnten nun einen Ring sprengen.
Berlin (dpa) - In einem der größten europäischen Ermittlungsverfahren
gegen organisierten Taschendiebstahl beginnt in Berlin der erste
Prozess gegen mutmaßliche Hintermänner. Ein Paar und sein Sohn sollen
von Rumänien aus Taschendiebstähle organisiert haben, Kinder und
Jugendliche zum Stehlen ausgebildet und als Teams in ganz Europa
losgeschickt haben.
Um welche Banden ging es bei den Ermittlungen?
Die Kriminalpolizei machte in jahrelangen Ermittlungen drei
Großfamilien aus der Volksgruppe der Roma in der ostrumänischen Stadt
Iasi ausfindig. Viele Roma leben dort seit längerem am Stadtrand in
Siedlungen, die früher Slums ähnelten. Von dort aus sollen sie die
bandenmäßigen Taschendiebstähle organisiert haben. Den rumänischen
Behörden fiel irgendwann auf, dass dort zunehmend größere Häuser un
d
teurere Autos standen.
Wie gehen die Banden vor?
Kinder im Alter von 10 bis 12 Jahren werden systematisch als
Taschendiebe «ausgebildet» und dann 14- bis 16-jährig in die
europäischen Großstädte geschickt. Als Masche der Bande gilt der
«Rolltreppentrick»: Im Gedränge auf der Treppe postiert sich einer
der Diebe hinter einem möglichen Opfer. Ein Komplize drückt den
Nothalteschalter der Rolltreppe. Durch das ruckartige Stoppen der
Treppe sind die potenziellen Opfer kurz abgelenkt. In dem Moment
greifen die Täter in Taschen und Rucksäcke.
Warum wurden besonders Kinder eingesetzt?
Kinder und Jugendliche fallen in Gruppen nicht so schnell auf. Sie
können zudem mit Gewalt leichter unter Druck gesetzt werden. Werden
die jungen Diebe ertappt, haben sie meist keine Ausweise dabei und
geben falsche Namen und Alter an. Oft bleibt der Polizei nichts
anderes übrig, als angeblich 13-Jährige als strafunmündig zum
Kindernotdienst zu bringen. Dort verschwinden sie schnell wieder.
Wo waren die Banden aktiv?
In vielen europäischen Großstädten in Deutschland, Frankreich,
Spanien, Portugal, Italien, Belgien und Irland. Bis etwa 2013 war
nach den Ermittlungen für die Taschendiebe aus Iasi häufig Paris das
erste Ziel. Weil sie dort nach einer Aufklärungskampagne der Polizei
aber immer weniger Beute machten, seien sie weiter nach Osten
gezogen.
Warum steuerten sie dann Berlin an?
Berlin ist lukrativ für Taschendiebe, weil es viele Touristen gibt
und einen gut ausgebauten öffentlichen Personennahverkehr. Die Bande
soll vor allem in U- und S-Bahnen gestohlen haben. Die Zahl der
registrierten Taschendiebstähle in Berlin hat sich seit 2013 mehr als
verdoppelt, alleine 2015 wurden 40 000 Fälle angezeigt. Die
Dunkelziffer liegt noch weit darüber.
Welche Täter gibt es in diesem Bereich noch?
Die allermeisten Taten werden laut dem Landeskriminalamt von Tätern
aus Rumänien und Nordafrika verübt. Roma sind in dem Bereich aktiv,
weil sie in ihren Herkunftsländern wie Rumänien oft kaum eine andere
Perspektive als Kriminalität haben. Auch aus Marokko kommen
organisierte Taschendiebe.
Wie kam die Kriminalpolizei den Diebesbanden auf die Spur?
Die deutschen Fahnder hörten zum Teil Telefone ab. Auch das
Verschicken des Geldes über Büros für Bargeldtransfer konnte
durchleuchtet werden. Die Kripo ermittelte auch in Rumänien und
anderen Ländern und konnte internationale Haftbefehle ausstellen
lassen. Die mutmaßlichen Hintermänner wurden in Rumänien und zum Teil
von Zielfahndern in weiteren Ländern festgenommen.
Was ist das Besondere an dem aktuellen Prozess?
Neu ist, dass die Staatsanwaltschaft für organisierte Kriminalität
sich mit dem Thema befasste und dass es den Ermittlern gelang, an die
tausende Kilometer weit weg sitzenden Hintermänner zu kommen. Die
Ermittlungen wurden zum Teil von Europol, der europäischen
Polizeibehörde in Den Haag, koordiniert. «Es ist ein europäisches
Pilotverfahren», sagte der Berliner Staatsanwalt für organisierte
Kriminalität, Dirk Eckert.
Um welche mutmaßlichen Täter geht es jetzt?
Insgesamt wurden 79 Verdächtige ermittelt - unter ihnen 7 mutmaßliche
Hintermänner und 54 oft minderjährige Diebe, die in Berlin agiert
haben sollen. Im Prozess geht es um 21 Fälle in der Zeit von Oktober
2013 bis Februar 2014. Die drei Angeklagten sollen von Rumänien aus
das erbeutete Geld kontrolliert und für den Transfer gesorgt haben.
21 Verhandlungstage mit 88 Zeugen sind geplant. Voraussichtlich Ende
Juni beginnt in Berlin der zweite Prozess in dem Tatkomplex - gegen
weitere mutmaßliche Hintermänner.