Die Brexit-Debatte ist politischer Sprengstoff für Nordirland Von Teresa Dapp, dpa
10.06.2016 05:46
Großbritannien streitet über Vor- und Nachteile der EU. Doch in den
verschiedenen Teilen des Königreichs unterscheiden sich die Debatten
stark. In Nordirland könnte ein «Brexit» alte Gräben wieder aufrei
ßen
lassen - gerade deswegen hoffen manche auf ein «No» zum EU-Verbleib.
Belfast (dpa) - Auf dem Weg von Dublin nach Norden übersieht man das
Schild leicht. «Willkommen in Nordirland» - damit ist man in
Großbritannien. Einem Königreich, das seine Grenzen recht
gewissenhaft kontrolliert. Schließlich gehören die Briten nicht zur
Schengen-Zone und schauen misstrauisch auf den «Kontinent», wie sie
das restliche Europa nennen. Mit Irland ist das anders. Die beiden
Länder sind stolz, dass nach der blutigen Zeit des
Nordirland-Konflikts auf der irischen Insel die Schlagbäume
verschwunden sind. Aber wie lange bleibt es dabei?
Wenn die Briten bei dem historischen Referendum am 23. Juni für den
Austritt aus der Europäischen Union stimmen, dann verläuft künftig
zwischen Nordirland und der Republik Irland die EU-Außengrenze. Das
könnte ein großes Problem werden, meint der irische Historiker
Fearghal McGarry, der an der Queen's University in Belfast lehrt.
«Die Grenze zwischen Norden und Süden aufzulösen, war psychologisch
und wirtschaftlich ein wichtiger Teil des Karfreitagsabkommens.» Der
Pakt schuf 1998 die Voraussetzung dafür, dass katholische
Republikaner und Großbritannien-treue Protestanten heute ganz
überwiegend friedlich zusammenleben.
Ein bilaterales Freizügigkeitsabkommen wäre natürlich möglich. «A
ber
wieder eine Grenze zu haben würde definitiv politische Instabilität
nach sich ziehen und wäre ein Ziel für radikale Republikaner», ist
McGarry sicher. Er glaube nicht, dass die Konservativen im britischen
Parlament in London an Nordirland dachten, als sie das EU-Referendum
beschlossen. «Das ist ein sehr englisches Thema.»
Seit den 90er-Jahren hat die EU viele Millionen nach Nordirland
gepumpt, sowohl im Rahmen der PEACE-Programme zur Aussöhnung als auch
an Wirtschaftssubventionen. Die Rolle der EU im Friedensprozess sei
vielleicht unterschätzt, sagte Irlands Ministerpräsident Enda Kenny
kürzlich. «Sie war entscheidend dafür, konstruktiven Kontakt zu
erleichtern und Vertrauen zwischen unseren Regierungen aufzubauen, um
einen politischen Ausgleich zu finden.»
Der Belfaster Historiker Eamon Phoenix hält sogar für möglich, dass
die Gewalt in Nordirland wieder aufflammt. «Wenn extremistische
Republikaner sagen, die britische Regierung will Irland trennen, dann
wäre die Gefahr da, dass junge Leute zu den Waffen greifen.» In
England sind es die Nationalisten, die die EU verlassen wollen. In
Nordirland und Schottland dagegen richtet sich Nationalismus gegen
London und ist EU-freundlich. Dem Belfaster Politologen Lee McGowan
zufolge sind mehr als 90 Prozent der nordirischen Katholiken pro EU.
Entsprechend zeigen Umfragen, dass sowohl die Schotten als auch die
Nordiren mehrheitlich dafür stimmen dürften, in der EU zu bleiben.
Dass die englisch-konservative Nordirland-Ministerin der britischen
Regierung, Theresa Villiers, für den «Brexit» ist, erzürnt Katholik
en
in Nordirland. Vier der fünf größten Parteien dort sind fürs
Drinbleiben. Nur die protestantische DUP will die Union verlassen.
Doch am 23. Juni zählt das britische Gesamtergebnis, und 85 Prozent
der Briten leben in England. Viele befürchten, dass ein «Brexit» ein
neues Unabhängigkeitsreferendum in Schottland nach sich ziehen könnte
und der Norden sich - anders als im Herbst 2014 - abspalten würde.
Republikanern in Nordirland wäre das recht: Sie setzen darauf, dass
auch ein Anschluss an die Republik Irland dann gelingen könnte.
«Der EU-Austritt wäre meiner Meinung nach der Anfang vom Ende des
Vereinigten Königreichs», sagt Robert McClenaghan, Bürgerberater fü
r
die katholisch-republikanische Partei Sinn Féin. Wie er am 23. Juni
stimmen will, wisse er noch nicht. Seine Partei ist offiziell fürs
Drinbleiben. «Das Herz sagt das eine, der Kopf etwas anderes», sagt
McClenaghan grinsend. «Ich könnte einer von diesen hinterlistigen
Leuten sein, die heimlich in der Wahlkabine... aber eigentlich sind
wir sehr diszipliniert.»