«Brexodus»: Viele EU-Ausländer verlassen Großbritannien Von Silvia Kusidlo, dpa
24.08.2017 15:27
Erst Ende März 2019 wird Großbritannien die Europäische Union
verlassen. Doch viele EU-Ausländer treibt die Verunsicherung über
ihre Zukunft schon jetzt aus dem Königreich.
London (dpa) - Brexit-Vorboten: Die Netto-Einwanderung nach
Großbritannien ist deutlich zurückgegangen. Vor allem immer mehr
EU-Ausländer verlassen das Land und immer weniger ziehen dorthin.
Das belegen am Donnerstag in London veröffentlichte Schätzungen der
britischen Statistikbehörde ONS (Office for National Statistics).
Die Netto-Einwanderung - die Differenz zwischen Einwanderung und
Auswanderung - sank demnach binnen eines Jahres bis Ende März bei
allen Ausländern um 81 000 auf 246 000. Dies ist der niedrigste Wert
seit drei Jahren. Insbesondere EU-Ausländer kehrten Großbritannien
den Rücken. Bei ihnen fiel die Netto-Einwanderung um 51 000 auf
127 000 und damit so stark wie seit etwa zehn Jahren nicht mehr.
Die Zahlen deuten nach Angaben der ONS-Expertin Nicola White darauf
hin, dass das Brexit-Referendum für den Rückgang verantwortlich sein
könnte. Unklar sei, ob es sich um einen langfristigen Effekt handele.
Die Rechte der EU-Bürger nach der Scheidung Großbritanniens von der
EU sind noch weitgehend unklar. Die Trennung erfolgt Ende März 2019.
Von den EU-Ausländern haben den Statistiken zufolge insbesondere
Bürger aus den EU-8-Staaten dem Vereinigten Königreich den Rücken
gekehrt. Dazu zählen die Tschechische Republik, Estland, Ungarn,
Litauen, Lettland, Polen, Slowenien und die Slowakei. Sie hatten sich
im Jahr 2004 der Staatengemeinschaft angeschlossen.
Bei der Abstimmung über den Austritt aus der Europäischen Union im
Juni 2016 spielte das Thema Einwanderung eine große Rolle. London
will durch die Scheidung von der EU die ungehinderte Zuwanderung von
EU-Ausländern beschränken. Ziel von Premierministerin Theresa May ist
es, die Netto-Einwanderung auf unter 100 000 zu drücken.
Ein Sprecher des Wirtschaftsverbandes Institute of Directors sagte in
London: «Niemand sollte diese Zahlen feiern.» Großbritannien büße
schon jetzt als Arbeits- und Wohnort an Attraktivität ein. Viele
Agrarbetriebe und Firmen in der Lebensmittelindustrie befürchten,
ohne billige Arbeitskräfte aus dem EU-Ausland nicht überlebensfähig
zu sein. Auch das Hotelgewerbe sieht Probleme auf sich zukommen.
Auf Kritik stießen die neuen Zahlen auch bei der oppositionellen
Labour-Partei. Die Liberaldemokraten, die einen Verbleib
Großbritanniens in der Europäischen Union wollten, sprachen von einem
«Brexodus der EU-Bürger».
In Großbritannien leben etwa 3,2 Millionen EU-Bürger und 1,2
Millionen Briten in der Europäischen Union. Sie brauchen dafür
bislang keine besondere Erlaubnis. In der kommenden Woche sollen die
Brexit-Verhandlungen in Brüssel fortgesetzt werden.