Seehofers Paukenschlag Von Christoph Trost, Marco Hadem, Jörg Blank und Nico Pointner, dpa
02.07.2018 03:01
In der CSU-Zentrale überschlagen sich in der Nacht auf Montag die
Ereignisse. Horst Seehofer will als Konsequenz aus dem Asylstreit mit
der Kanzlerin zurücktreten. Nur eine kleine Hintertür gibt es noch.
München/Berlin (dpa) - Die CSU-Vorstandssitzung dauert schon fast
acht Stunden, als Horst Seehofer die Bombe platzen lässt. Eigentlich
rechnet jeder damit, dass der Bundesinnenminister Kanzlerin Angela
Merkel (CDU) herausfordert, dass er ernst macht und im Alleingang
Zurückweisungen bestimmter Flüchtlinge an den Grenzen anordnet. Doch
dann kündigt Seehofer völlig überraschend an, seine beiden Ämter
aufgeben zu wollen - Parteivorsitz und Ministeramt in Berlin.
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt reagiert am schnellsten,
erhebt sofort vehement Einspruch. «Das ist eine Entscheidung, die ich
so nicht akzeptieren kann», sagt er nach Teilnehmerangaben - und
bekommt lang anhaltenden Applaus. Letztlich habe die Uneinsichtigkeit
der Kanzlerin die CSU in die jetzige Situation gebracht, schimpft
Dobrindt. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass einige im Vorstand in
der Situation eine überflüssige Inszenierung sehen.
In der Folge wird die Sitzung für rund zwei Stunden unterbrochen, die
engste Parteispitze zieht sich mit Seehofer zu Beratungen zurück. Mit
dabei unter anderem Dobrindt, Seehofers Vizes, Ministerpräsident
Markus Söder, aber auch der Ehrenvorsitzende Edmund Stoiber. Der
engste Zirkel will Seehofer zum Weitermachen überreden.
Aber dieser scheint entschlossen. Am Ende willigt Seehofer doch ein,
an diesem Montag in Berlin einen Zwischenschritt einzuschieben, ein
Entgegenkommen seinerseits, wie er es nennt: «Sonst wäre das heute
endgültig gewesen.» Die CSU sei weiter gewillt, die
Handlungsfähigkeit der Bundesregierung zu erhalten. Wieder eine
kleine Spitze gegen Merkel? Immerhin muss sie nun die finale
Entscheidung treffen. Für sich und Seehofer. Nach einiger Wartezeit
gibt auch die CDU-Spitze grünes Licht für das Gespräch. Was danach
komme, wisse er auch nicht, betont Seehofer.
Welche Möglichkeiten er und die CSU überhaupt haben, skizziert
Seehofer zuvor im Vorstand: Entweder die CSU beuge sich dem Kurs von
Merkel in der Asylpolitik. Oder er ordne als Innenminister die
Zurückweisung bestimmter Migranten an der deutschen Grenze an - mit
allen damit verbundenen Gefahren für den Fortbestand der Koalition.
Das aber will Seehofer offenbar nicht, obwohl der CSU-Vorstand genau
das vor weniger als zwei Wochen an gleicher Stelle beschlossen hat.
Seehofer will nicht derjenige sein, der für das mögliche Aus von
Fraktionsgemeinschaft, Koalition und Bundesregierung verantwortlich
gemacht wird. Deshalb präsentiert er seine dritte Option: Er trete in
den kommenden drei Tagen als Parteichef und Minister zurück - und das
habe er auch vor zu tun. Er werde am Mittwoch 69 Jahre alt, und er
habe viel erreicht. «Ich will mich nicht entlassen lassen», zitieren
Vorstandsmitglieder Seehofer.
Es ist nicht das erste Mal, dass Seehofer von der engsten
Parteispitze von einem sofortigen Rücktritt abgehalten würde: Nach
dem Bundestagswahl-Fiasko war er schon bereit, seine Ämter als
Parteichef und bayerischer Ministerpräsident zur Verfügung zu
stellen. Die engste Parteispitze verhinderte das. Am Ende gab
Seehofer nur das Ministerpräsidenten-Amt an Markus Söder ab, blieb
Parteichef und wurde im März 2018 neuer Bundesinnenminister.
Doch diesmal ist es ernster. Das ist schon am Mittag erkennbar, als
Seehofer in der Parteizentrale ankam. Kein Wort sagt er, nichts,
keinen Ton. Nicht einmal ein «Grüß Gott». Das gab es so noch nie.
Wortlos geht er mit versteinerter Miene an den Kameras und Mikrofonen
vorbei, ab in den Aufzug, fährt in die Chefetage der CSU-Zentrale.
Es sind die entscheidenden Stunden im erbitterten Asylstreit von CDU
und CSU. Da ist die große Frage noch: Wird es am Ende eine wenigstens
gesichtswahrende Lösung für beide Seiten geben? Oder läuft es - trotz
aller gegenteiligen Beteuerungen - doch auf den Bruch der Koalition,
der Unions-Fraktionsgemeinschaft und der Bundesregierung hinaus?
Schon kurz nach Beginn der CSU-Sitzung wird deutlich: Es gibt keine
Zeichen einer Entspannung, keine Kompromisssignale. Im Gegenteil:
Seehofer macht unmissverständlich deutlich, was er von Merkels
EU-Gipfel-Ergebnissen hält: nichts. In einem etwas mehr als
einstündigen Vortrag zerpflückt er alle wichtigen Kerninhalte der
EU-Einigung, mit denen die Kanzlerin nach eigenen Worten selbst
immerhin «einigermaßen» zufrieden ist. Bei Seehofer ist von
Zufriedenheit nichts zu erkennen. Die Gipfelergebnisse seien kein
«wirkungsgleiches Surrogat» (kein gleichwertiger Ersatz) zu
Zurückweisungen an der Grenze. Sein Treffen mit Merkel am Vorabend?
Ein «wirkungsloses Gespräch», berichtet er.
Seehofer zerrupft auch Merkels Vorschlag, Flüchtlinge, die bereits in
einem anderen EU-Land registriert sind, in den geplanten Ankerzentren
unterzubringen. Deutschland würde damit die Zuständigkeit vom
eigentlich zuständigen EU-Land übernehmen. «Es geht hier auch um die
Glaubwürdigkeit eines Vorsitzenden», sagt der CSU-Chef nach Angaben
von Teilnehmern. Und dann, nach fast acht Stunden Debatte mit mehr
als 50 Wortmeldungen, zieht er demonstrativ die Notbremse.
In der CDU-Spitze erleben sie das Hin und Her bei der kleinen
Schwester mit fast ungläubigem Staunen, tief in der Nacht vertagt
sich das Gremium schließlich. Selbst wenn es bei Seehofer einen
Rückzug vom Rückzug geben sollte, könne dies für Merkel Steine stat
t
Brot bedeuten, heißt es. Zumindest dann, wenn Seehofer mit einem noch
für möglich gehaltenen Entschluss weiterzumachen, die Entscheidung
verbinde, von diesem Montag an Migranten an der deutschen Grenze
zurückweisen zu lassen, die bereits in einem anderen EU-Land
registriert wurden. Im CDU-Vorstand gab es für diesen Fall die
Einschätzung, dass Merkel den Innenminister dann entlassen werde.
Sollte Seehofer bei seinem Rücktritt bleiben, könnte vom Asylstreit
zwischen Kanzlerin und Bundesinnenminister ein Bild von Samstagabend
in Erinnerung bleiben: Da war Seehofer überraschend nach Berlin
gefahren, traf sich mit Merkel im Kanzleramt. Und dann dieses Bild:
Merkel läuft mit einem Weinglas in der Hand einige Meter vor Seehofer
über einen Balkon ihrer Regierungszentrale, auch er ein Glas in der
Hand. Die Mienen versteinert. Harmonie und Eintracht sehen anders
aus. Schon bei diesen Fotos befürchteten nicht wenige für
Sonntagabend das Schlimmste - und zwar in der CDU wie in der CSU.
Was aber, wenn Seehofer doch weitermacht? Sein Vorgehen am
Sonntagabend zeigt jedenfalls: Er stellt seine eigenes politisches
Schicksal hintan, wenn es um die Interessen der CSU im Machtkampf mit
Merkel geht. Für die CSU steht viel auf dem Spiel: Am 14. Oktober ist
Landtagswahl. Und das «Endspiel um die Glaubwürdigkeit», wie mehrere
CSU-Spitzenpolitiker den Kern des Streits beschrieben, wollen weder
Seehofer noch die CSU verlieren. Doch der Glaube an einen Sieg hat
schwer gelitten.