Polnische Justizreform: Oberste Richterin lehnt sich auf Von Natalie Skrzypczak, dpa
04.07.2018 17:11
Trotz lauter Kritik schasst Warschau mit vorzeitigen Pensionierungen
mutmaßlich missliebige Richter am Obersten Gericht. Doch die
Gerichtsvorsitzende leistet Widerstand. Und auch die EU bleibt nicht
still.
Warschau/Straßburg (dpa) - Nach der jüngsten Justizreform entspinnt
sich in Polen ein Machtkampf zwischen Regierung und der Vorsitzenden
des Obersten Gerichts. Richterin Malgorzata Gersdorf widersetzte sich
am Mittwoch ihrer per Gesetz erzwungenen vorzeitigen Pensionierung
und erschien zur Arbeit. Im Europaparlament bestürmten Abgeordnete
der großen Fraktionen den polnischen Ministerpräsidenten Mateusz
Morawiecki mit Kritik am Umbau der Justiz. Der Regierungschef pochte
indes darauf, dass Polen sein Rechtssystem alleine gestalten dürfe.
Polen liegt seit mehr als zwei Jahren im Streit mit der EU-Kommission
wegen der von der rechtskonservativen Regierungspartei PiS
vorangetriebenen Reformen. Die Brüsseler Behörde, zuständig für die
Einhaltung der EU-Verträge, fürchtet um die Unabhängigkeit der Justiz
und die Gewaltenteilung. Erst diese Woche hat sie ein weiteres
Verfahren wegen Verletzung von EU-Recht gegen Warschau eingeleitet.
Bei der Reform geht es um die vorzeitige Zwangspensionierung von
Richtern am Obersten Gerichtshof, gegen die sich die Vorsitzende
Gersdorf auflehnt. Sie beharrt auf der in der Verfassung vorgesehenen
Richter-Amtszeit von sechs Jahren, nach der sie bis 2020 im Amt
bleiben darf. «Ich trete als Verteidigerin des Rechtsstaats auf»,
sagte die 65-jährige Juristin. «Ich werde weiter Gerichtsvorsitzende
sein.»
Nach einem von der PiS durchgesetzten Gesetz, das seit Mittwoch
greift, sollen Richter am Obersten Gericht schon mit 65 statt mit 70
Jahren in den Ruhestand gehen. Das betrifft 27 von 72 Richtern. Wer
im Amt bleiben will, muss dies bei Staatspräsident Andrzej Duda
beantragen. Regierungskritiker warnen, damit werde die PiS in Polen
missliebige Richter los. Gegen das umstrittene Gesetz demonstrierten
in Warschau am Mittwoch rund 1500 Menschen. Einige skandierten:
«Hände weg von den Gerichten!»
Im Europaparlament, wo Morawiecki am Mittwoch eine Rede zur Zukunft
der EU hielt, wurde ebenfalls harsche Kritik laut. «Zerstören Sie
nicht die demokratische Kultur in Ihrem Land!», forderte der
Fraktionschef der Sozialdemokraten, Udo Bullmann (SPD). «Warum
entlässt Ihre Regierung Richter wegen deren politischer Meinung?»,
fragte der christdemokratische Fraktionschef Manfred Weber (CSU).
Der Vizepräsident der EU-Kommission, Valdis Dombrowskis, bekräftigte
in der Debatte: «Wenn der Rechtsstaat systematisch bedroht ist, dann
können wir nicht einfach die Augen davor verschließen, wir können
nicht sagen, dass das ein rein nationales Problem ist.»
Morawiecki wies die Kritik zurück. Die Richter in seinem Land könnten
heute unabhängiger arbeiten als vor den Reformen, sagte er: «Polen
ist ein stolzes Land, bitte erteilen Sie uns keine Lehren!» Auch in
seiner Europa-Rede pochte er auf Eigenständigkeit in der EU. «Die
Achtung der nationalen Identitäten ist eine der Stützen der
Europäischen Union», sagte Morawiecki. «Jedes Land hat das Recht,
sein Rechtssystem zu gestalten gemäß seiner Traditionen.»
Morawiecki betonte die konstruktive Rolle, die Polen in der EU
spielen wolle. Man dürfe sich aber nicht auf «schicksalhafte
Visionen» eines europäischen Superstaats einlassen. Die EU sei
vielmehr ein «zwischenstaatliches Experiment» zur Suche nach
Lösungen, die Nationalstaaten alleine nicht gelängen.