Der Herr über die Brexit-Abstimmungen: John Bercow Von Silvia Kusidlo und Christoph Meyer, dpa
28.03.2019 14:18
«Mr Speaker» - so wird der Parlamentspräsident angesprochen. Der
klein gewachsene John Bercow übt sein Amt mit Wortwitz und
Überzeugung aus. Unumstritten ist der Politiker aber nicht.
London (dpa) - «Oooooorder», «Ooooooooooorder!» - schallt es bei
Sitzungen des britischen Unterhauses durch den Saal. Selbst Kinder,
die in den Nachrichten die markanten Ordnungsrufe von John Bercow
aufschnappen, äffen ihn bereits nach. Der Parlamentspräsident hat
sich in Großbritannien und anderen Ländern zur Kultfigur gemausert -
und er spielt im Streit um den EU-Austritt eine wichtige Rolle.
Kritiker werfen ihm jedoch vor, die Neutralität seines Amts zugunsten
der Brexit-Gegner zu verletzen.
Bercow ist bereits der 157. «Speaker of the House of Commons».
Mehrere seiner Vorgänger überlebten den Posten nicht: sie wurden
geköpft. Heute ist es eher der exzentrische Bercow, vor dem die
Abgeordneten zittern. Denn «Mr Speaker», so wird er im Parlament
angesprochen, ist quasi der Herr über die Debatten und Abstimmungen.
So wählte Bercow am Mittwoch im Unterhaus die Alternativ-Vorschläge
für das umstrittene Brexit-Abkommen aus, über die die Abgeordneten
dann entscheiden durften. Allerdings kam nicht eine einzige der acht
Optionen in dem völlig zerstrittenen Parlament durch.
Selbst Premierministerin Theresa May kommt nicht an ihm vorbei.
Kürzlich untersagte Bercow kurzerhand eine dritte Abstimmung über
Mays Brexit-Deal. Nur eine substanzielle Änderung an der Vorlage
könne eine weitere Abstimmung über das Abkommen rechtfertigen,
erklärte Bercow. Der Clou: Er berief sich auf eine 415 Jahre alte
Regel, die kaum noch jemand parat hatte. Die Regierung musste sich
beugen und kündigte an, die Anforderungen zu erfüllen.
Kritiker warfen dem 56-Jährigen prompt wieder Parteilichkeit
zugunsten der EU-freundlichen Abgeordneten vor. Bercow selbst - das
ist kein Geheimnis - hätte Großbritannien lieber weiter in der
Europäischen Union gesehen. Kritik an seinem Verhalten im Unterhaus
weist er aber zurück. «Ich habe meine privaten Überzeugungen, aber im
Parlament bin ich unparteiisch», sagte er in einem Interview, das am
Donnerstag unter anderem in der «Welt» erschienen ist.
Bercow ist ein Dickschädel, der die hohe Kunst der Rhetorik
beherrscht. «Ich rede einfach zu gern und im Zweifel zu viel», räumte
der aus einfachen Verhältnissen stammende Politiker in dem Interview
ein. «Meinen Sprachstil habe ich von meinem Vater geerbt, der recht
gestelzt sprach.»
Schon als Kind las Bercow Zeitung, kandidierte für das
Schülerparlament und protestierte gegen das Schulessen. Er habe keine
Probleme, vor einer Menge zu sprechen. Dagegen gehöre Tanzen zu
seinen Urängsten - und seine Furcht davor könne er «nur mit einer
beträchtlichen Menge Alkohol» überwinden.
Ursprünglich ein Konservativer, entfremdete sich Bercow von den
regierenden Tories. Er sieht sich als Verteidiger des Parlaments
gegen eine Regierung, die zunehmend autoritäre Züge trägt. Er nahm
auch den Kampf gegen die britische Boulevardpresse auf, die
EU-freundliche Abgeordnete als Meuterer anprangerte. Bercow rief
daraufhin den Abgeordneten im Unterhaus zu: «Bei der Abgabe Ihrer
Stimme ... sind Sie als Mitglied des Parlaments niemals Meuterer,
niemals Verräter, niemals Querulanten, niemals Volksfeinde.»
Viel Beifall, aber auch Kritik bekam Bercow für die Ankündigung,
US-Präsident Donald Trump bei einem Staatsbesuch nicht im Parlament
zu empfangen. Indirekt warf er Trump Rassismus und Sexismus vor.
Doch es gibt auch immer wieder massive Vorwürfe von Ex-Mitarbeitern
und Kollegen gegen ihn. Sein Ex-Privatsekretär Angus Sinclair etwa
behauptete, Bercow habe ihn vor anderen Mitarbeitern angeschrien.
Mehrere Parlamentarierinnen soll er ebenfalls beleidigt haben.
Für Aufsehen sorgte auch sein Familienleben: Ehefrau Sally, die den
recht kleinen Bercow um einen Kopf überragt und eine Anhängerin der
oppositionellen Labour-Partei ist, fiel wiederholt mit erotischen
Fotos und frivolen Äußerungen auf. Ihr Einzug ins Big-Brother-Haus
löste bei ihrem Mann keine Begeisterung aus - er reiste nach Indien.