Britische Regierung veröffentlicht Szenarien für No-Deal-Brexit Von Christoph Meyer und Silvia Kusidlo, dpa

12.09.2019 12:19

Als «Grundlegendes Szenario» war das Dokument bereits einer Zeitung
zugespielt worden, nun veröffentlicht Downing Street das Papier unter
dem Titel «Planungsannahmen für den schlimmsten Fall». Spielt die
Johnson-Regierung die Gefahren eines ungeregelten Brexits herunter?

London (dpa) - Auf Druck des Parlaments hat die britische Regierung
ein internes Papier für den Fall eines ungeregelten Brexits
veröffentlicht. Das am Mittwochabend publik gemachte
«Yellowhammer»-Dokument war bereits vergangenen Monat an die Presse
durchgesickert und enthält Prognosen darüber, was bei einem
EU-Austritt Großbritanniens ohne Abkommen passieren dürfte. Für
Aufsehen sorgt besonders, dass der Titel offenkundig geändert wurde.

In dem mehrseitigen Dokument wird unter anderem vor Protesten und
Störungen der öffentlichen Ordnung gewarnt. Dies könnte eine
«erhebliche Menge» der Polizeikräfte in Anspruch nehmen. Außerdem
dürfte es aufgrund tagelanger Wartezeiten für Lastwagen am Ärmelkanal

zu Lieferengpässen bei Medikamenten kommen. In der Folge könnten
Krankheiten bei Tieren ausbrechen, die wiederum die menschliche
Gesundheit beeinträchtigen könnten. Urlauber müssten sich auf
Flughäfen, bei Fahrten mit Fähren über den Ärmelkanal und bei Nutzu
ng
des Eurotunnels den Prognosen zufolge in Geduld üben.

Auch bestimmte Lebensmittel dürften dem Dokument zufolge knapp
werden. Hamsterkäufe könnten das Problem verschlimmern - schon jetzt
decken sich viele Briten vorsichtshalber mit bestimmten Waren ein. In
Teilen des Landes könnte es auch zu Kraftstoffengpässen kommen. Im
britischen Nordirland dürften die Strompreise erheblich steigen.
Außerdem rechnen die Experten bei einem No Deal mit
Auseinandersetzungen zwischen britischen Fischern und Kollegen aus
EU-Ländern. Sie fürchten zudem, dass die britische Exklave Gibraltar
nicht genügend auf den ungeregelten Austritt vorbereitet ist.

Der «Sunday Times»-Journalistin Rosamund Urwin waren schon vor Wochen
inhaltlich identische Dokumente mit der Überschrift «Grundlegendes
Szenario» zugespielt worden, wie sie auf Twitter schrieb. Die von der
Regierung am Mittwoch veröffentlichten Papiere tragen den Titel
«Planungsannahmen für den schlimmsten Fall».

Durch die geänderte Überschrift sieht sich die Opposition in ihrer
Vermutung bestätigt, dass die Regierung die möglichen Folgen eines
ungeregelten EU-Austritts am 31. Oktober herunterspielt.
Labour-Politiker Andy McDonald forderte, dass Premierminister Boris
Johnson umgehend zu den Dokumenten Stellung nehmen müsste. Die
Planungen erinnerten an einen «Krieg oder an eine Naturkatastrophe».
«Operation Yellowhammer» (Goldammer) ist der Code-Name für die
No-Deal-Planung der britischen Regierung.

Mit den Veröffentlichungen bleibt die Regierung weit hinter den
Forderungen des Parlaments zurück. Die Abgeordneten hatten am Montag,
kurz vor dem Beginn einer von Johnson auferlegten fünfwöchigen
Zwangspause, die Herausgabe aller Dokumente zu den No-Deal-Planungen
verlangt. Zudem forderten sie die komplette Korrespondenz dazu an,
inklusive E-Mails und Kurznachrichten wichtiger Regierungsmitarbeiter
und Berater. Staatsminister Michael Gove wies die Forderung als
«unangemessen und unverhältnismäßig» zurück. Die Regierung mü
sse die
Privatsphäre ihrer Mitarbeiter schützen.

Hintergrund der Forderung nach der Korrespondenz war die Vermutung,
Johnson wolle das Parlament mit der Zwangspause schlicht kaltstellen,
um einen No-Deal-Brexit durchziehen zu können. Der Premier droht
offen damit, sein Land ohne Abkommen aus der EU zu führen, sollte
sich Brüssel nicht auf seine Forderungen nach Änderungen am
Austrittsabkommen einlassen. Dabei hat das Parlament inzwischen ein
Gesetz verabschiedet, das ihn zum Beantragen einer Verlängerung
zwingt, sollte nicht rechtzeitig ein Deal mit der EU zustande kommen.

Am Mittwoch schloss sich ein schottisches Gericht der Auffassung der
Johnson-Kritiker an und erklärte die Zwangspause für unrechtmäßig.

Die Richter kamen zu dem Schluss, dass Johnson tatsächlich der
Kontrolle durch das Parlament entgehen wollte. Das Gericht kündigte
an, die Zwangspause - die eigentlich erst am 14. Oktober enden soll -
für «null und nichtig» zu erklären.

Oppositionsabgeordnete riefen die Regierung dazu auf, das Parlament
umgehend wieder einzuberufen. «Sie sollten uns zurückrufen, damit wir
unsere Arbeit machen können», sagte der Labour-Abgeordnete Hilary
Benn dem britischen Sender Sky News. Doch die Regierung wies die
Forderungen zurück und kündigte an, zunächst Berufung einzulegen beim

obersten britischen Gericht, dem Supreme Court. Dort soll am Dienstag
kommender Woche über die Angelegenheit verhandelt werden.

Eine Sprecherin von Parlamentspräsident John Bercow teilte mit, es
liege in der Zuständigkeit der Regierung, die Zwangspause vorzeitig
zu beenden. Johnson äußerte sich am Mittwoch nicht zu dem Urteil.