Lesbos - eine Insel jenseits jeglicher Normalität Von Takis Tsafos, dpa

04.03.2020 15:12

Kaum mehr Insulaner auf den Straßen von Lesbos, dafür fast jede Nacht
neue Boote mit Migranten und Flüchtlingen an Bord, die mittlerweile
auch im Hafen der Hauptstadt nächtigen. Hoffnung auf eine Lösung gibt
es für die Insel nicht.

Lesbos (dpa) - Wer noch vor kurzer Zeit auf Lesbos und in der
Inselhauptstadt Mytilini war, erkennt das Eiland heute nicht wieder.
Auf der Straße wird arabisch, Urdu, Farsi und Paschtu gesprochen.
Migranten aus allen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens und
Afrikas bevölkern den Hafen und die Stadt Mytilini. «Schert euch zum
Teufel», murmelt ein älterer Einheimischer, der auf der zentralen
Shoppingmeile Ermou seine Einkäufe macht. Er ist einer von wenigen
Inselgriechen, die noch auf der Straße unterwegs sind.

An den Geldautomaten lange Warteschlangen: Nach Auszahlung der Renten
holen die älteren Bürger ihr Geld - wie auch die Asylsuchenden, die
eine kleine finanzielle Unterstützung erhalten. «Es gibt nicht
genügend Geldautomaten. Aber das ist nicht das Einzige. Die ganze
Infrastruktur bricht zusammen», sag Irene, Angestellte in einem Hotel
in Mytilini.

Überfüllt ist auch das kleine Krankenhaus der Insel. Es wurde einst
für nicht mehr als 30 000 Einwohner gebaut. Jetzt müssen die Ärzte
zusätzlich 20 000 Flüchtlinge versorgen. Migranten und Einheimische
stehen gleichermaßen Schlange. Nicht erst seit der Ausbreitung des
neuartigen Coronavirus haben die Inselbewohner Angst vor Epidemien.
Längst sorgen sie sich wegen des Drecks und der Gesundheitsgefahren,
die von den unzähligen unorganisierten, überfüllten Flüchtlingslage
rn
auf ihrer Insel ausgehen.

Angst haben aber auch die Migranten und Flüchtlinge. Hamid Reza, ein
29-jähriger Afghane, zeigt auf seine Frau und seine kleine Tochter,
die er zum Hafen der Inselhauptstadt gebracht hat. «Ich habe Angst,
im Lager zu leben. Ich sorge mich um meine Frau und meine Familie»,
sagt er. Dort, im berüchtigten Lager von Moria, herrsche
Gesetzlosigkeit. Deshalb verbringe er den Tag am Hafen.

Das Lager von Moria ist inzwischen eine kleine Stadt geworden.
Überall stehen Hütten und Zelte. Der Geruch von Urin breitet sich
aus. Kinder spielen in schmutzigen Rinnsalen. «Hier ist es schlimm.
Ich bin seit sieben Monaten hier und warte auf die Bearbeitung meines
Asylantrags», sagt ein junger Somalier. Er lebt mit sieben weiteren
Landsleuten in einer aus Plastikplanen und Pappkarton gebauten Hütte,
die nicht mehr als drei mal drei Meter groß ist.

Auch am Hafen von Mytilini leben mittlerweile Flüchtlinge. Sie sind
den Einheimischen ein Dorn im Auge. Aber wer hat Recht? Eigentlich
beide Seiten, sagt ein Hafenpolizist, der seinen Namen nicht nennen
will, der dpa. Die Migranten wollten weg, die Einheimischen wollten,
dass sie weggehen, also gebe es doch eine gemeinsame Meinung: «Sie
müssen weg.»

Vor einigen Tagen waren Vermummte auf Mitarbeiter von
Hilfsorganisationen und Journalisten losgegangen. In griechischen
Medien war von Rechtsradikalen die Rede. Berichte über Vorfälle
dieser Art auf Lesbos gab es seither aber nicht mehr.

Der 2016 geschlossene Pakt zwischen der EU und der Türkei sieht vor,
dass alle Migranten, die kein Asyl in Griechenland bekommen, zurück
in die Türkei geschickt werden. Das Problem: Den Griechen gelingt es
nicht, die vielen Asylanträge und -verfahren zügig abzuschließen.
Manche Verfahren dauerten mehr als zwei Jahre. Ergebnis: Heillos
überfüllte Camps.

Zum Jahresbeginn hatte die konservative Regierung von
Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis das Asylrecht verschärft und
beschleunigt. Innerhalb von sechs Monaten solle jeder spätestens
wissen, ob er bleiben könne oder nicht. Doch während die griechische
Regierung noch mit der Umsetzung der neuen Maßnahmen beschäftigt war,
kündigte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am vergangenen

Wochenende an, die Grenzen zu öffnen.

Seither kommt es zu Unruhen an der griechisch-türkischen Grenze im
Osten des Landes, wo Tausende Migranten versuchen, nach Europa zu
gelangen. Auch auf Lesbos macht sich die angespannte Situation
zwischen Griechenland und der Türkei bemerkbar, sagt Nikolaos
Panagiotopoulos, auf Lesbos für die Hilfsorganisation International
Rescue Committee Deutschland (IRC) verantwortlich. «Wir hatten am
Wochenende rund 1000 Neuankünfte auf den Inseln. Das setzt das
bestehende System enorm unter Druck, die Kapazität liegt nur bei 3000
Menschen, nun sind es auf allen Inseln mehr als 36 000.»

Das Problem könne nicht von Griechenland allein behoben werden, sagt
Panagiotopoulos. Der Zeitpunkt sei gekommen, gerade jetzt, wo die EU
über eine Reform des europäischen Asylsystems debattiere. Es müsse
ein transparentes, faires und menschliches Prozedere etabliert
werden. Dazu gehörten auch massive Investitionen in die Infrastruktur
vor Ort, darunter Übersetzer, Rechtsanwälte und ein effizientes
Informationssystem für die Migranten.

Der griechische Regierungschef Mitsotakis treibt diese Bemühungen
voran - wird jedoch nun durch die türkische Flüchtlingspolitik
torpediert, ist die Meinung von politischen Analysten in Athen.
Längst nimmt die griechische Politik das Vorgehen Erdogans als
Invasion mit anderen Mitteln wahr. Die Hoffnung ruht nun - wenn auch
nur verhalten - auf EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Sie müsse beweisen, dass die EU sich nicht unter Druck setzen lasse,
ist die einhellige Meinung.