Konflikt mit der Türkei: Griechenland gibt Zurückhaltung auf Von Alexia Angelopoulou, Takis Tsafos und Anne Pollmann, dpa
16.04.2021 15:15
Kontrollverlust oder Husarenstück? Entgegen aller diplomatischen
Gepflogenheiten hat der griechische Außenminister in Ankara sämtliche
Streitpunkte zwischen den Nachbarstaaten offengelegt - vor laufenden
Kameras. Nun wird auf beiden Seiten gerätselt, wie es weitergeht.
Athen/Ankara (dpa) - Solch eine Pressekonferenz hat es lange nicht
gegeben: Ausgesprochen herzlich und aufgeräumt präsentierten sich der
türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu und sein Gast, der
griechische Außenminister Nikos Dendias, am Donnerstagabend in Ankara
vor Journalisten. Als «alte Freunde» bezeichneten sie sich immer
wieder, witzelten und freuten sich auf das gemeinsame Abendessen. Bis
Dendias zu einem Rundumschlag ausholte, der nicht nur seinen Kollegen
Cavusoglu sondern auch die Öffentlichkeit fassungslos zurück ließ.
Was normalerweise hinter verschlossenen Türen diskutiert wird - in
diesem Fall der Konflikt um Erdgasvorkommen im Mittelmeer,
gegenseitige Vorwürfe im Umgang mit Migranten, die Militarisierung
griechischer Inseln, die Überflüge türkischer Kampfjets über
bewohntem griechischen Gebiet und viele Streitpunkte mehr - breitete
Dendias nahezu genüsslich und dabei stets freundlich vor laufenden
Kameras aus. Zuvor, heißt es in griechischen Medien, habe er lange
mit seinem Premier Kyriakos Mitsotakis telefoniert, was darauf
schließen lässt, dass seine Vorgehensweise von der griechischen
Regierung abgesegnet war.
Für Griechenland ist es ein Wendepunkt im Umgang mit dem Nachbarland.
War man zuvor - ganz im Sinne der EU - um Beschwichtigung bemüht,
soll nun offenbar Tacheles geredet werden. Athen macht sich zunutze,
dass die Türkei in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckt, sich
wieder an die EU annähern will und vom neu gewählten US-Präsidenten
Joe Biden bisher weitgehend ignoriert wird. So wurde Dendias
beispielsweise nicht müde zu betonen, dass es sich bei den strittigen
Punkten keinesfalls um bilaterale Konflikte handele, sondern dass die
türkische Haltung dem Regelwerk der EU entgegenstehe.
Das EU-Mitglied Griechenland habe stets die Beitrittsambitionen der
Türkei unterstützt, versicherte Dendias. Dann müsse jedoch auch das
EU-Regelwerk respektiert werden. «Und dazu gehört die Achtung der
territorialen Integrität aller EU-Länder.» Durch ihre Forschungen
nach Erdgas in der Ägäis negiere die Türkei diese Regeln, in diesem
Fall das internationale Seerecht. «Und nicht nur das: Die Türkei hat
die Souveränitätsrechte Griechenlands mit 400 Überflügen über
griechischen Boden verletzt», sagte Dendias und wandte sich an seinen
Gastgeber: «Mevlüt, über griechischem Boden! Es gibt kein
internationales Recht, das dies erlaubt!»
Die Aufregung über solche Aussagen war bei politischen Beobachtern in
Athen nicht geringer als bei den türkischen Kollegen. «Ich bin fast
70 Jahre alt und habe so etwas noch nie erlebt», sagte etwa der
griechische Politologe Panagiotis Ioakimidis. «Nur gut, dass die
Journalisten anschließend keine Fragen stellen durften, sonst wäre es
womöglich noch weiter eskaliert», kommentierte der griechische
Türkei-Experte Manolis Kostidis.
Nicht nur Dendias, auch Cavusoglu sorgte für Erstaunen. Zwar war der
Außenminister sichtlich irritiert und kritisierte die aggressive
Haltung Dendias' - doch er ließ ihn anschließend auch antworten,
anstatt die Pressekonferenz für beendet zu erklären, wie es als
Gastgeber sein Recht gewesen wäre.
Er selbst habe das Gespräch in freundlicher Atmosphäre führen wollen,
betonte Cavusoglu. «Werden wir das von nun an also auf bilateraler
Ebene gemeinsam besprechen oder weiterhin so streiten? Ihr müsst euch
entscheiden.» Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte am
Freitag, die Türkei und Griechenland sollten ihre Konflikte bilateral
lösen: «Die Europäische Union oder andere sollen sich nicht zwischen
uns stellen.»
Hüseyin Bagci, Politikwissenschaftler an der türkischen Universität
Odtü, nannte den Vorfall eine «diplomatisches Beispiel ohnegleichen».
Bei dem Schlagabtausch auf türkischem Boden» habe Ankara eine Lektion
erteilt bekommen. «Dass die Griechen das auf türkischem Boden gewagt
haben, ist einmalig.» Politisch werde der Streit jedoch keine
Konsequenzen haben, glaubt Bagci.
Davon geht auch der Großteil griechischer Analysten aus: Sie glauben,
dass Cavusoglu trotz des Eklats der Einladung von Dendias zu einem
Besuch in Athen nachkommen wird. Nur einige wenige fürchten eine
weitere Zerrüttung der Beziehungen und neue Spannungen in der Ägäis.
Als Sicherheitsventil gelten die Sondierungsgespräche, die seit
Januar unabhängig von offiziellen Besuchen auf diplomatischer Ebene
zwischen beiden Ländern laufen. Sie sollen dazu dienen, eine nächste
Eskalation bereits im Vorfeld zu verhindern. Positiv könnte sich
jedoch trotz der diplomatischen Horror-Show von Nikos Dendias auch
die gute Beziehung zwischen den beiden Ministern auswirken.
Denn an der beiderseits viel beschworenen Freundschaft scheint
Dendias auch weiterhin gelegen. Im Anschluss an die Pressekonferenz
sagte er an Cavusoglu gerichtet: «Ich hoffe, dass unsere
Meinungsverschiedenheiten nicht dazu führen, dass Du mich vom
Abendessen auslädst - ich habe jetzt nämlich wirklich Hunger.»