Bekommen jetzt viel mehr Diesel-Fahrer Schadenersatz? Von Regina Wank und Anja Semmelroch, dpa
21.03.2023 14:30
Wegen des VW-Abgasskandals sind Hunderttausende Diesel-Fahrer in
Deutschland finanziell entschädigt worden. Bei anderen Marken und
Motoren ist die Sache komplizierter. Nun senkt der Europäische
Gerichtshof die Hürden für Klagen. Für wen zahlt sich das aus?
Luxemburg/Karlsruhe (dpa) - Es war still geworden um den
Dieselskandal, aber jetzt macht ein Urteil Millionen von Autokäufern
neue Hoffnung: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) setzt die Hürden
für Schadenersatz deutlich niedriger an als die deutschen Gerichte.
Damit rücken mit einem Schlag Autobauer in den Fokus, die bislang
glimpflich davongekommen sind. Lohnt es, jetzt auch noch zu klagen?
Was das am Dienstag verkündete Urteil bedeutet - und was nicht:
Inwiefern ist die Luxemburger Entscheidung ein Wendepunkt?
Eigentlich hat der Bundesgerichtshof (BGH) sehr viele Fragen zu
möglichen Ansprüchen betroffener Autofahrer längst in letzter Instanz
geklärt. Seit dem ersten und wichtigsten Urteil aus dem Mai 2020 gilt
dabei immer der Grundsatz: Diesel-Kläger haben nur dann Anspruch auf
Schadenersatz, wenn sie vom Hersteller der Autos bewusst und gewollt
auf sittenwidrige Weise getäuscht wurden. Der EuGH setzt nun viel
tiefer an - hier würde schon einfache Fahrlässigkeit reichen.
Warum macht das für Kläger einen wichtigen Unterschied?
Die strengen BGH-Kriterien waren bisher allein beim VW-Skandalmotor
EA189 erfüllt. Denn hier wurde eine Betrugssoftware so programmiert,
dass die Autos Behördentests erkannten und dann weniger giftige
Abgase ausstießen als tatsächlich im Straßenverkehr. Betroffene
konnten ihr Auto zurückgeben, mussten sich aber auf den Kaufpreis die
Nutzung anrechnen lassen - wer zu viel gefahren ist, geht leer aus.
Welche Autos geraten jetzt in den Blick?
In vielen weiteren Diesel-Autos auch anderer Hersteller funktioniert
die Abgasreinigung ebenfalls nicht durchgängig gleich gut. Die
Funktionalitäten, die dafür verantwortlich sind, stehen ebenfalls im
Verdacht, unzulässige Abschalteinrichtungen zu sein. Es gibt auch
schon massenhaft Klagen auf Schadenersatz. Nach der BGH-Linie war das
aber sehr schwierig. Denn hier ist nicht so offensichtlich wie bei
VW, dass Verantwortliche womöglich bewusst gegen Gesetze verstießen.
Es könnte genauso gut sein, dass sie nur die Rechtslage verkannten.
Wie hat man sich das praktisch vorzustellen?
Prominentes Beispiel ist das sogenannte Thermofenster von Mercedes,
um das es jetzt auch in Luxemburg ging. Auch andere Autobauer setzten
die Technik standardmäßig ein. Dabei wird je nach Außentemperatur die
Verbrennung von Abgasen direkt im Motor gedrosselt - um diesen zu
schützen, wie die Hersteller sagen. Kritiker werfen ihnen vor, auch
hier darauf geschaut zu haben, dass die Autos die Grenzwerte vor
allem unter Test-Bedingungen einhalten. Der BGH sah bisher keinen
Grund für Schadenersatz: Denn hier wird auf dem Prüfstand kein
Schummel-Modus aktiviert, die Technik funktioniert immer gleich.
Was bedeutet das alles für mich als Autofahrer?
Auf Diesel-Verfahren spezialisierte Anwaltskanzleien beschwören
bereits die nächste große Klagewelle herauf. Noch sind aber viel zu
viele Fragen offen, um abschätzen zu können, ob es sich auch lohnt,
vor Gericht zu ziehen. Der ADAC weist etwa darauf hin, dass in jedem
Einzelfall festgestellt werden muss, dass unzulässige Technik verbaut
wurde. Nach einem früheren EuGH-Urteil wäre ein Thermofenster
unzulässig, wenn es unter normalen Bedingungen die meiste Zeit des
Jahres die Abgasreinigung drosselt. Auf welche Autos das zutrifft,
muss aber noch von deutschen Gerichten geklärt werden. Die Deutsche
Umwelthilfe geht in großem Stil gegen Freigabebescheide für Diesel
vor, davon seien mittelbar bis zu zehn Millionen Autos betroffen.
Wie geht es jetzt weiter?
Die Vorgaben aus Luxemburg müssen in Deutschland umgesetzt werden.
Der wichtigste Punkt dürfte sein, wann es Schadenersatz gibt. Der
«Dieselsenat» des BGH hat für den 8. Mai bereits eine Verhandlung zu
einem VW-Motor mit Thermofenster terminiert, in der er die sich
«möglicherweise ergebenden Folgerungen für das deutsche
Haftungsrecht» erörtern will, um den unteren Instanzen möglichst
schnell Leitlinien an die Hand zu geben. Dort liegen seit Monaten
massenweise Verfahren auf Eis, bei denen es auf die Frage ankommt.
Welchen Spielraum haben die deutschen Richter?
Einen recht großen. Die EuGH-Richter weisen zwar darauf hin, dass
nationale Vorschriften «es nicht praktisch unmöglich machen oder
übermäßig erschweren dürfen, für den dem Käufer entstandenen Sc
haden
einen angemessenen Ersatz zu erhalten». Die nationalen Gerichte
könnten aber dafür Sorge tragen, dass es «nicht zu einer
ungerechtfertigten Bereicherung» kommt - also dass Leute Summen
herausschlagen, die zum Schaden in keinem Verhältnis stehen. In dem
Mercedes-Fall soll das Landgericht Ravensburg, das Luxemburg um Rat
gefragt hatte, nun prüfen, ob die Anrechnung der gefahrenen Kilometer
eine angemessene Entschädigung gewährleisten würde.