EU liefert Kiew weniger Munition als geplant - Hoffen auf Kriegswende Von Ansgar Haase, Andreas Stein und Ulf Mauder, dpa

14.11.2023 16:18

Deutschland will zwar seine Militärhilfe für die Ukraine ausweiten,
rechnet aber mit einem Scheitern des EU-Munitionsplans. Trotzdem
hofft Kiew auf eine Wende in seinem Abwehrkampf gegen den russischen
Angriffskrieg.

Brüssel/Kiew/Moskau (dpa) - Verteidigungsminister Boris Pistorius
erwartet ein Scheitern der EU-Pläne für die Lieferung von einer
Million Artilleriegeschosse an die Ukraine bis zum Frühjahr 2024.
«Die eine Million werden nicht erreicht. Davon muss man ausgehen»,
sagte der SPD-Politiker bei einem EU-Verteidigungsministertreffen am
Dienstag in Brüssel. Grund seien unzureichende
Produktionskapazitäten.

Deutschland habe mit dem Abschluss von Rahmenverträgen einen großen
Teil dazu beigetragen, dass die Kapazitäten vergrößert werden könne
n,
erklärte Pistorius. Die Produktionsprozesse seien aber «wie sie
sind». Nicht einmal ein Beschluss über eine Kriegswirtschaft könnte
dazu führen, dass die Produktion morgen anspringt und der Bedarf
gedeckt wird.

EU-Chefdiplomat erwägt Zwangsmaßnahmen

Einigkeit über die Frage der Verantwortung gibt es allerdings nicht.
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell betonte, das Problem seien
seiner Auffassung nach nicht die Industriekapazitäten. Etwa 40
Prozent der Produktion werde derzeit in Drittländer exportiert. Dass
nicht genug Munition da sei, liege also daran, dass die Unternehmen
ihre Produkte auf andere Märkte schickten.

«Vielleicht müssen wir also versuchen, diese Produktion auf den
vorrangigen Markt zu verlagern, nämlich den ukrainischen», sagte
Borrell. Nach seinen Angaben konnten bislang erst etwa 300 000 der in
Aussicht gestellten Artilleriegranaten geliefert werden.

Die Fortschritte der EU bei der Unterstützung der Ukraine und
Hilfspläne für die Zukunft standen am Dienstag als Topthema auf der
Tagesordnung des Verteidigungsministertreffen in Brüssel. Die
EU-Staaten hatten der Ukraine am 20. März versprochen, innerhalb von
zwölf Monaten eine Million neue Artilleriegeschosse für den
Abwehrkrieg gegen Russland bereitzustellen. Sie sollen aus den
Beständen der Mitgliedstaaten, aber auch über neue gemeinsame
Beschaffungsprojekte organisiert werden und Engpässe der ukrainischen
Streitkräfte verhindern.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba bedauerte, dass die
Munitionslieferungen der EU nicht rechtzeitig eintreffen werden. «Es
hat sich gezeigt, dass es noch sehr viele Hindernisse, viele nicht
abgestimmte Dinge, sehr viel Bürokratie gibt», sagte der Diplomat im
ukrainischen Nachrichtenfernsehen.

Deutschland will Militärhilfe für Ukraine deutlich aufstocken

Verteidigungsminister Pistorius bestätigte in Brüssel, dass die
Bundesregierung die Haushaltsmittel für Militärhilfe für die Ukraine

im kommenden Jahr deutlich aufstocken will. Statt der ursprünglich
veranschlagten vier Milliarden Euro sind im Etat für 2024 nun acht
Milliarden Euro vorgesehen.

Der Rüstungskonzern Rheinmetall hat von der Bundesregierung einen
Auftrag über 32 Leopard-Panzer bekommen, mit denen die Ukraine im
Krieg gegen Russland unterstützt werden soll. Die Fahrzeuge sollen
nächstes Jahr ausgeliefert werden, wie das Unternehmen in Düsseldorf
mitteilte.

Die EU stockt indes die humanitäre Hilfe für vom Krieg betroffene
Menschen in der Ukraine um weitere 110 Millionen Euro auf. Mit dem
frischen Geld könnten zum Beispiel Nahrungsmittel, Unterkünfte und
Gesundheitsversorgung finanziert werden. Auch seien Bargeldhilfen und
psychosoziale Unterstützung möglich. Durch die neuen Zusagen erhöht
sich die Summe der seit dem Beginn der russischen Invasion zur
Verfügung gestellten EU-Mittel auf insgesamt auf 843 Millionen Euro.

Landminen-Report: Zahl der Opfer in der Ukraine verzehnfacht

In der Ukraine sind durch den Angriffskrieg Russlands 2022 zehn Mal
so viele Menschen wie im Jahr davor durch Landminen und explosive
Überreste des Krieges umgekommen oder verletzt worden. Es gab dort
2022 gut 600 dokumentierte Fälle, wie die internationale Kampagne zum
Verbot von Landminen (ICBL) in Genf berichtete. Weltweit fiel die
Zahl der gemeldeten Opfer von 5544 auf 4710.

Russland habe seit der Invasion des Nachbarlandes im Februar 2022 in
11 der 27 ukrainischen Regionen Landminen verlegt, heißt es in dem
ICBL-Landminen-Bericht. Aber auch die Ukraine setzte die Waffe nach
diesen Angaben mindestens einmal ein - in Isjum im Raum Charkiw, als
das Gebiet unter russischer Kontrolle war. Es habe dort mindestens
elf Opfer gegeben. Anders als Russland gehört die Ukraine zu den
Vertragsstaaten und hat als einziges der 164 Länder gegen die
Bestimmungen verstoßen. Russland hat sich dem Vertrag nicht
angeschlossen, auch die USA und China nicht.

Ukraine: Krieg mit Russland vor entscheidendem Jahr

Bei einem Besuch in den USA äußerte der Chef des ukrainischen
Präsidentenbüros, Andrij Jermak, die Hoffnung auf einen Wendepunkt in
der Verteidigung gegen Russlands Angriffskrieg. «Das nächste Jahr
wird für uns entscheidend», sagte Jermak einer Mitteilung zufolge in
einer Rede im Hudson Institute in Washington. Die Luftüberlegenheit
Russlands müsse gebrochen werden. Dafür benötige Kiew mehr Flugabwehr

von den Verbündeten.

«Ich sage Ihnen die Wahrheit: Dieser Winter wird für uns auch sehr
schwer», sagte er mit Blick auf russische Luftangriffe auf das
ukrainische Energienetz im vergangenen Winter. Kiew hatte mehrfach
Befürchtungen geäußert, dass neue Angriffe Moskaus vor allem auf
Umspannwerke auch in diesem Winter längere Stromausfälle verursachen
könnten.

Kiew schließt Kompromissfrieden aus

Einmal mehr schloss Jermak einen Kompromissfrieden aus. «In unserem
Falle wäre das Kriegsende über einen Kompromiss nichts anderes als
eine Pause», warnte er. Die Ukraine befürchtet, dass Russland eine
Waffenruhe zum Wiederaufrüsten nutzen könnte. Voraussetzung für einen

«gerechten» Frieden wäre der vollständige Abzug russischer Truppen

von ukrainischem Staatsgebiet, wie Jermak betonte.

Jermak sprach in Washington auch mit den Sicherheitsberatern aus den
USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland und dankte für die
gewährte Unterstützung. Mit dieser Hilfe seien bereits knapp 50
Prozent der von Russland anfänglich besetzten Gebiete zurückerobert
worden. Jedoch sei die russische Gruppierung in der Ukraine nun drei
Mal so stark wie zu Beginn der Invasion. Russland kontrolliert
einschließlich der bereits 2014 annektierten Halbinsel Krim weiter
fast ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets.