Vorerst keine Mehrheit für EU-Lieferkettengesetz in Sicht

09.02.2024 15:57

Eigentlich gab es bereits eine politische Einigung, doch Bedenken der
FDP haben das Projekt ins Wanken gebracht. Eine am Freitag geplante
Abstimmung über das EU-Lieferkettengesetz wird vertagt.

Brüssel (dpa) - Unter den EU-Staaten zeichnet sich vorerst keine
Mehrheit für ein europäisches Lieferkettengesetz ab. Eine Abstimmung
über eine zuvor von Unterhändlern ausgehandelte Einigung wurde
spontan verschoben, wie die belgische EU-Ratspräsidentschaft
mitteilte. Das liegt auch daran, dass in Deutschland FDP-geführte
Ministerien kurz angekündigt hatten, dem Vorhaben nicht zustimmen zu
wollen. Die FDP erklärte, auch andere EU-Länder hätten Bedenken.

Durch das EU-Lieferkettengesetz sollen große Unternehmen zur
Rechenschaft gezogen werden, wenn sie etwa von Kinder- oder
Zwangsarbeit außerhalb der Union profitieren. Sie sollen zudem
stärker auf die Einhaltung der Pariser Klimaziele verpflichtet
werden. Deutschland hat bereits ein Lieferkettengesetz. Das
EU-Vorhaben geht aber auch über die deutschen Vorgaben hinaus. So
gilt es für mehr Unternehmen und sieht mehr Möglichkeiten vor,
rechtlich gegen Unternehmen vorzugehen, die sich nicht an die
Vorgaben halten.

Streit in der Ampel

Vor einer Woche hatten sich die von den Liberalen geführten
Ministerien für Justiz und Finanzen gegen die Pläne gestellt. Damit
war eine Mehrheit für das Vorhaben ungewiss. Vermutet wurde, dass
sich Italien am Verhalten Deutschlands hätte orientieren können. Das
Verhalten der FDP sorgte auch in der Koalition für Streit.
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) kritisierte, Deutschlands
Verlässlichkeit in der EU stehe auf dem Spiel. «Wenn wir unser einmal
in Brüssel gegebenes Wort brechen, verspielen wir Vertrauen.»  

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Katharina Dröge,
sagte am Freitag, dass die Abstimmung über eine so wichtige
Richtlinie wie das EU-Lieferkettengesetz ausgerechnet aufgrund einer
fehlenden Zustimmung aus Deutschland auf der Kippe stehe, sei «extrem
bitter». Durch die Verschiebung der Abstimmung habe Deutschland
allerdings noch eine Chance bekommen.

FDP will Nachbesserungen

Die FDP betonte, mit ihrer Kritik nicht allein zu sein und forderte
Änderungen. Parteichef Christian Lindner schrieb auf der Plattform X,
ehemals Twitter, das Lieferkettengesetz würde Betriebe ohne sicheren
Fortschritt für Menschenrechte und Umwelt stark belasten. «Die (lange
bekannten) Anforderungen der Bundesregierung wurden nicht erfüllt.
Und Deutschland ist offensichtlich mit seinen Bedenken alles andere
als allein.»

Auch Parteikollege Carl-Julius Cronenberg betonte: «Neben Deutschland
war aus vielen weiteren Mitgliedsländern deutliche Kritik zu
vernehmen.» Das Nein der FDP entspreche dem Koalitionsvertrag. Die
Chefverhandlerin des EU-Parlaments, Lara Wolters, hatte im Gespräch
mit der Deutschen Presse-Agentur betont, die FDP sei eng in die
Verhandlungen eingebunden und an Bord gewesen. Andere Behauptungen
seien «Blödsinn», sagte die Sozialdemokratin.

Der Unionsvorsitzende im EU-Parlament, Daniel Caspary, erklärte, die
Stimmung unter den EU-Staaten sei eindeutig gewesen. Das
Lieferkettengesetz wäre abgelehnt worden, wäre es zu einer Abstimmung
gekommen. Es werde durch Verzögerung versucht, Kritiker auf den
letzten Metern weichzukochen.

Kritik aus Wirtschaft

Wirtschaftsvertreter begrüßten ebenfalls, dass das Lieferkettengesetz
nicht verabschiedet wurde. Der Bundesverband Großhandel, Außenhandel
und Dienstleistungen erklärte, die Ziele seien zwar unbestritten
richtig, die Richtlinie selbst aber handwerklich schlecht gemacht.
«Der deutsche Mittelstand ertrinkt auch ohne zusätzliche Belastungen
aus Brüssel in Berichtspflichten und einer Flut von Fragebögen.»

Der Zentralverband des deutschen Handwerks erklärte, das Gesetz
bedeute «zusätzliche ungerechtfertigte und unverhältnismäßige
Belastungen für die ohnehin von Bürokratie überbordend belasteten
Betriebe» und dürfe in der jetzigen Fassung nicht verabschiedet
werden.

Menschenrechtler appellieren an Scholz

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hatte
sich am Donnerstag eindringlich für das Vorhaben ausgesprochen.
Deutschland werde einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden und
Europa einen irreparablen politischen Schaden erleiden, falls das
Lieferkettengesetz keine Mehrheit finde, sagte Marcel Fratzscher.

Menschenrechtler äußerten scharfe Kritik und appellierten an Kanzler
Olaf Scholz und die Bundesregierung, eine schnelle Einigung zu
finden. Die Organisation Global Witness sagte, die Bundesregierung
werde «von ihrem Junior-Koalitionspartner erpresst». Die Zeit werde
knapp. Die EU-Staaten müssten mit der belgischen Ratspräsidentschaft
zusammenarbeiten, um das Gesetz zu verabschieden.

Die Initiative Lieferkettengesetz warf der FDP vor, «mit
Falschbehauptungen und einem massiven Foulspiel» versucht zu haben,
Unsicherheiten bei anderen EU-Staaten zu verbreiten. «Der Kanzler
muss seine Richtlinienkompetenz nutzen und Deutschlands Gesicht in
der EU wahren», erklärte ein Sprecher. Auch die Umweltorganisation
Germanwatch und das Hilfswerk Brot für die Welt forderten den Kanzler
auf, sich für eine Verabschiedung einzusetzen.