Jubiläum in unruhigen Zeiten: Europarat wird 75 Von Regina Wank, dpa

16.05.2024 04:00

Der einst so stolze Europarat ist zu seinem Jubiläum angeschlagen:
Krisen, wo man hinsieht - und Mitglieder, die mit Austritt drohen.
Doch abschreiben sollte man die große Schwester der EU noch nicht.

Straßburg (dpa) - Als «europäisches Gewissen» bezeichnete der erste

Bundeskanzler Konrad Adenauer den Europarat mal. Doch 75 Jahre nach
Gründung scheint die Organisation in einem desolaten Zustand: Mehrere
Mitglieder drohen mit Austritt, die Menschenrechte, über deren
Einhaltung der Europarat wacht, sind weiter unter Druck - und noch
dazu verwechseln viele die Organisation mit der EU. Wie viele
Geburtstage erlebt der Europarat noch?

Im Schatten der jüngeren EU 

Als erste große europäische Nachkriegsorganisation 1949 gegründet,
setzt sich der Europarat für den Schutz von Menschenrechten,
Demokratie und Rechtsstaat ein. Zu den 46 Mitgliedern gehören alle
Länder der EU, aber auch Großbritannien oder die Türkei. Er ist damit

zuständig für 680 Millionen Europäerinnen und Europäer - von Grön
land
bis Aserbaidschan.

Doch seit die EU immer wichtiger wird, schwindet die Bedeutung des
Europarats. Zu leicht lässt er sich verwechseln mit dem Europäischen
Rat, der aus den 27 Staats- und Regierungschefs der EU besteht, zumal
sowohl EU als auch Europarat die gleiche Fahne und die gleiche Hymne
nutzen.  

Viele Wackelkandidaten

Der Ukraine-Krieg hat auch für den Europarat eine Zeitenwende
eingeläutet. Wegen seines Angriffskriegs wurde Russland aus der
Gemeinschaft ausgeschlossen. Doch auch andere Mitgliedsländer gelten
als Wackelkandidaten, bei denen nicht ganz klar ist, wie
unverbrüchlich sie tatsächlich zum Europarat stehen. Serbien etwa
droht mit dem Austritt, falls das Kosovo wie geplant Mitglied wird.
Aserbaidschans Delegation wurde Anfang des Jahres für ein Jahr aus
der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ausgeschlossen, weil
das Land Wahlbeobachtern den Zutritt verweigert hatte. Die Türkei
setzt seit Jahren wichtige Urteile des zum Europarat gehörenden
Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht um und sperrt etwa den
Kulturförderer Osman Kavala weiter ein.

 Auch für Großbritannien sind die Urteile des Gerichtshofs ein Dorn
im Auge, unter anderem weil die Richter 2022 in letzter Minute
Großbritannien daran gehindert hatten, Asylsuchende per Flieger nach
Ruanda zu schicken. Premier Rishi Sunak kündigte bei der
Verabschiedung eines Asylpakts mit Ruanda vor knapp zehn Tagen an,
einstweilige Verfügungen des EGMR künftig zu ignorieren. 

Austrittsdrohungen sollte der Europarat schlichtweg nicht beachten,
findet der Leiter der Deutschen Delegation in der Parlamentarischen
Versammlung des Europarates, Frank Schwabe: «Wenn Sie in der
Fußball-Bundesliga eine Mannschaft haben, die statt mit dem Fuß mit
der Hand spielt, und, wenn der Schiri dann pfeift, mit dem Austritt
droht - dann ist es nicht schön. Aber dann ist es ja deren
Entscheidung. Niemand muss mit der Hand spielen.» Wenn man sich davon
beeindrucken ließe und die Regeln wegen eines Einzelfalls für alle
anderen schwächen würde, ginge die Substanz der Organisation
verloren, mahnt der SPD-Politiker.  

Begrenzte Möglichkeiten

Das schärfste Schwert des Europarats ist und bleibt der Gerichtshof
für Menschenrechte (EGMR). Er wacht über die Einhaltung der
Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die alle Mitglieder des
Europarats unterzeichnet haben. Sie sichert wichtige Rechte zu, etwa
das Recht auf Leben, das Verbot der Folter oder die Meinungsfreiheit.
Wer sich in seinen Rechten verletzt fühlt, kann vor dem EGMR klagen -
die Richtersprüche sind bindend für die verurteilten Länder. Das
Gericht ist allerdings chronisch überlastet mit über 50 000 neuen
Beschwerden pro Jahr. 

Abgesehen davon sind die Möglichkeiten begrenzt. Oft wird die
Organisation deswegen als Papiertiger verspottet. Schwabe sieht das
anders: «Die EU hat ökonomische Möglichkeiten, ja klar, die hat der
Europarat nicht. Aber der Europarat hat verbriefte Rechte.» Dazu
zählten etwa das Recht, Wahlbeobachtungsmissionen zu schicken oder
unangemeldet in Gefängnisse zu gehen.

Europarat als Impulsgeber

Die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, Julia
Duchrow, sagt, dass es ohne den institutionellen Rahmen des
Europarats viele positive Entwicklungen in Europa nicht gegeben hätte
- «zum Beispiel das liberalisierte Recht zu Schwangerschaftsabbrüchen
in Irland, Gefängnisreformen in Russland und der Türkei und die
Stärkung des Rechts auf Familie, auch für Geflüchtete.»

Auch der Kommunikationsdirektor des Europarats, Daniel Höltgen
betont: «In der Ukraine, Moldau und anderen EU-Kandidaten führt der
Einfluss des Europarats zum Beispiel durch die Empfehlungen der
Venedig-Kommission und der Expertengruppe gegen Korruption Greco
unbestritten zu wichtigen rechtsstaatlichen Reformen.» Zudem bleibe
die Istanbul-Konvention, die Gewalt gegen Frauen als
Menschenrechtsverletzung einstuft, der «wichtigste internationale
Vertrag im Kampf gegen häusliche Gewalt mit einem konkreten
Monitoring der teilnehmenden Staaten».

Zudem gilt das im vergangenen Jahr beschlossene Schadensregister als
erster Schritt auf dem Weg zu möglichen Entschädigungszahlungen an
die kriegsgeplagte Ukraine. Damit sollen die Zerstörungen in der
Ukraine dokumentiert werden, um Russland dafür zur Rechenschaft
ziehen zu können. 

Mit ein bisschen Zuversicht in die Zukunft

«Der Europarat ist angesichts wachsender nationalistischer,
rassistischer und antifeministischer Tendenzen heute wichtiger denn
je», sagt Duchrow von Amnesty. Nötig sei aber mehr politischer Wille
der europäischen Staaten, insbesondere in ihren bilateralen
Beziehungen. Außerdem sollte der Europarat aus Sicht von Amnesty
weniger neue Institutionen schaffen, sondern stattdessen das
bestehende System verbessern und effizienter machen.

Schwabe bleibt trotz allem zuversichtlich: «Es stimmt: Wir haben
immer mehr Länder, die sich von den Werten weg bewegen. Wir werden
das mit dem Europarat auch grundsätzlich nicht aufhalten können. Aber
wir können stehen so lange es geht. Die Lage wird sich auch wieder
ändern.