Gefährdetes Versprechen: Wie ein Europaaktivist um Erstwähler kämpft Von Florentine Dame, dpa
05.06.2024 05:30
Bei der Europawahl können schon 16-Jährige wählen. Im Ruhrgebiet will
eine Initiative möglichst viele Erstwähler für Europa begeistern -
damit sie sich mit ihrer Stimme gegen einen Rechtsruck stellen.
Bochum (dpa/lnw) - Im künstlichen Licht einer Schulturnhalle von
Bochum-Wattenscheid steht Milad Tabesch an einem Morgen im Mai vor
knapp 300 Berufsschülern auf einer kleinen Bühne und redet über
Europa. Was es ihm bedeutet und darüber, was Europa seinen Eltern
bedeutete, als sie 1992 vor Krieg und Vertreibung aus Afghanistan
flohen und Schutz und Demokratie im vereinten Europa, genauer im
Ruhrgebiet, suchten und fanden.
Der 27-Jährige spricht auch darüber, dass er all das durch einen
Rechtsruck bedroht sieht: «Aktuell macht mir das Angst, dass dieses
Versprechen, das meinen Eltern gegeben wurde, in Gefahr gerät», sagt
er. Seiner Sorge vor einem Wahlerfolg der extremen Rechten will er
die Begeisterung für die europäische Idee entgegensetzen. Seine
Mission vor der Europawahl am 9. Juni: Möglichst viele junge Menschen
damit anstecken.
Erstmals dürfen bei der Europawahl schon 16-Jährige abstimmen
Der Europaaktivist hat daher im vergangenen Sommer die Initiative
«Ruhrpott für Europa» ins Leben gerufen. Er will mit dem unter
anderem aus Mitteln der Landeszentrale für politische Bildung
unterstützten Projekt einer ausgesprochen vielfältigen jungen
Generation im Ruhrgebiet zeigen, dass auch ihre Stimme zählt. «Nicht
nur in Deutschland, sondern quer durch ganz Europa hinweg gewinnen
diejenigen Zulauf, die Europa abschaffen, zerstören oder es auf seine
wirtschaftliche Minimalnutzung reduzieren wollen», so Tabeschs
Diagnose. Bekämpfen will er das mit einer «positiven Vision für
Europa». Seine Zielgruppe: Erstwähler. Rund 5 Millionen davon sind am
9. Juni in Deutschland zur Wahl aufgerufen - erstmalig dürfen auch
16- und 17-Jährige ihre Stimme abgeben.
Tabesch und sein Team setzen mit ihrer europafreundlichen Initiative
neben Social-Media-Präsenz vor allem auf den direkten Austausch. In
mehrstündigen Schulworkshops versuchen sie Brücken zu bauen: Von der
eigenen Biografie im von Zuwanderungsgeschichten geprägten Pott zu
einem in Vielfalt geeinten Europa. Mehr als 500 junge Leute haben sie
in ihren Klassen besucht, mit spielerischen Ansätzen für Europa
geworben - bis zur Europawahl sollen es mindestens noch einmal so
viele werden.
Gelebte Vielfalt: «Der Ruhrpott ist ein Mini-Europa»
Auch am Bochumer Louis-Baare-Berufskolleg geht es nach dem
Turnhallenauftritt in kleinerer Runde weiter. Die 20 Schülerinnen und
Schüler zwischen 17 und 21, allesamt Erstwähler bei einer Europawahl,
strafen Klischees einer desinteressierten und unpolitischen Jugend
schnell Lügen: Nicht nur punkten sie auch bei kniffligen Fragen im
Europa-Quiz, mit dem Tabesch und seine Mitstreiterin Taban Abas
spielerisch einsteigen, sie teilen auch freimütig ihre
Einschätzungen, was Europa ihnen bedeutet. Reisefreiheit, Demokratie,
Sicherheit, Vielfalt - ganz unterschiedlich sind die Schwerpunkte.
Offensiv EU-skeptisch ist hier niemand. Und auch wenn sich kaum
jemand ausdrücklich als Europäer bezeichnen will, schätzen sie, was
Europa ihnen bietet.
«Das wichtigste ist Augenhöhe», wird Tabesch später erklären. Der
größte Teil der Schülerschaft ist zwar im Pott geboren, viele haben
aber eine zweite Heimat, Eltern, die zugewandert sind, oder beides.
Daher geht es in seinen Workshops auch um die Identitätsfrage, die
viele umtreibt. Tabesch will genau diese Brücke schlagen: «Der
Ruhrpott ist ein Mini-Europa», sagt er den Schülern. Die Vielfalt,
die man hier als Realität erlebe, ist für ihn die Blaupause für das
Europa, für das er begeistern will. Auch wenn er hier eine gut
informierte Schulklasse vor sich hat, weiß er darum, dass auch die
junge Generation anfällig für Populismus oder Politikverdrossenheit
sein kann. Und er hat erkannt, wie wichtig es ist, junge Leute schon
als Erstwähler für politische Mitbestimmung zu begeistern.
Aktuelle Umfrage: Nur wenige junge Menschen in Europa wollen wählen
gehen
So stehen laut einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann-Stiftung
in allen EU-Ländern junge Menschen in Deutschland und insgesamt in
Europa der Europäischen Union zwar mehrheitlich positiv gegenüber.
Zugleich gaben nur 59 Prozent der 16- bis 25-Jährigen EU-weit an,
dass sie bei der nun kommenden Europawahl ihre Stimme abgeben
wollen.
Studien zeigten allerdings regelmäßig, dass das Bild der
politikverdrossenen, desinteressierten Jugend irreführend sei, betont
Ana Alba Schmidt von der NRW School of Governance und vom Institut
für Politikwissenschaft der Universität Duisburg Essen. «Tatsächlic
h
sind Jugendliche überdurchschnittlich positiv zur Demokratie
eingestellt», so die wissenschaftliche Mitarbeiterin.
Laut dem jüngsten Demokratiebericht zur Lage der politischen Bildung
in NRW sind beispielsweise 94 Prozent der Jugendlichen zwischen 14
und 18 Jahren mit der Demokratie als politischem System zufrieden.
Das heißt aber nicht, dass sich diese positive Grundhaltung auch in
die aktuelle Politik hinüberzieht, so Alba Schmidt.
Expertin: Viele stellen Problemlösungskompetenz von Parteien in Frage
«Sorgen bereiten muss uns, dass ein wachsender Anteil junger Leute
die Problemlösungskompetenz der Parteien in Frage stellt», sagt sie
und verweist etwa auf eine in diesem Frühjahr von der
Konrad-Adenauer-Stiftung veröffentlichte Befragung von 16- bis
22-Jährigen.
Während mehr als drei Viertel die EU-Mitgliedschaft Deutschlands für
eine gute Sache hielten, seien viele unsicher, welche Partei
europapolitische Probleme überhaupt lösen könne.
Hier zeigt sich auch, dass die AfD in der jungen Zielgruppe durchaus
punkten kann: 14 Prozent der Jüngeren halten laut dieser Befragung
die AfD für am ehesten geeignet, die anstehenden Probleme in Europa
zu lösen - die SPD bekommt ebenso viel Zustimmung in diesem Punkt,
die Grünen einen Prozentpunkt weniger.
Politikwissenschaftlerin Alba Schmidt betreut ebenfalls Projekte der
politischen Bildung und weiß damit aus eigener Erfahrung, aber auch
aus der Forschung, dass sie gerade bei jungen Leuten Wirkung zeigen:
«Mit Angeboten wie der Juniorwahl, Podiumsdiskussionen,
Praxisgesprächen mit Politikern und Politikerinnen sowie interaktiven
Workshops und Planspielen haben wir bei dieser Gruppe viel leichteren
Zugriff. Eben weil sie vielfach noch zur Schule gehen, sind die
jungen Wähler leichter zu erreichen als ältere Zielgruppen», so Alba
Schmidt. Außerdem sei mit einer frühen Wahlmobilisierung ein
wichtiger Grundstein gelegt: «Wählen ist Gewohnheitssache.»
Den Unsicherheiten etwas entgegensetzen - und zwar ohne erhobenen
Zeigefinger, das wollen Tabesch und seine Mitstreiter. «Natürlich
gibt es in der EU vieles, was verbessert werden muss, aber das kommt
im nächsten Schritt. Erst einmal müssen wir für die Idee Europa
begeistern und den Kids zeigen, was das alles mit ihnen zu tun hat»,
sagt er.
In der 11. Jahrgangsstufe des Bochumer Louis-Baare-Berufskollegs
stehen die Chancen, dass seine Botschaft verfängt, nicht schlecht.
Die Schülerinnen und Schüler sind bis zur letzten Minute des knapp
dreistündigen Workshops aufmerksam bei der Sache. Bis zur Wahl am 9.
Juni will das Team von «Ruhrpott für Europa» noch möglichst viele
Schüler und Schülerinnen mobilisieren, ihre Stimme für ein
demokratisches Europa einzubringen.