Chance oder Dämpfer? Was die Wahlen für das Finale im Herbst bedeuten

10.06.2024 15:00

Die AfD wird in Thüringen bei der Europawahl stärkste Kraft. Doch es
gibt einen neuen Konkurrenten mit Erfolgsaussichten. Und in den
Kommunen fällt die Bilanz für die Höcke-Partei durchwachsen aus.

Erfurt (dpa/th) - Bei der Europawahl hat die AfD in Thüringen die CDU
von Platz eins verdrängt, mit ihrem Personal aber die Stichwahlen um
die Landratsämter verloren. Der Erfurter Politikwissenschaftler André
Brodocz sieht die AfD in einem Dilemma. «Sie ist stärkste Kraft, aber
weit von Mehrheiten entfernt», sagte er am Montag der Deutschen
Presse-Agentur in Erfurt. Der AfD fehle damit eine reale Machtoption.
«Um Politik zu gestalten, müsste die AfD koalitionsfähig werden.»
Sonst laufe die Partei, die in Thüringen vom Landesverfassungsschutz
als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird, Gefahr, dass «ihre
Wähler auf Dauer möglicherweise unzufrieden sind».

Thüringens SPD-Chef Georg Maier wies darauf hin, dass alle
AfD-Kandidaten bei den Stichwahlen leer ausgingen. «Und das macht
deutlich, dass die Menschen der AfD, wenn es um Personen geht, nichts
zutrauen. Die haben kein personelles Angebot.» Bei den Stichwahlen zu
den Landratsämtern und Rathäusern am Sonntag konnte vor allem die CDU
punkten, die ihre Rolle als starke Kommunalpartei stabilisierte.

Erfolg für den Newcomer

Bei der Europawahl erreichte die AfD am Sonntag 30,7 Prozent und
landete damit noch vor der CDU, die auf 23,2 Prozent kam. Einen
Newcomer-Erfolg feierte das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das aus
dem Stand bei der Europawahl in Thüringen auf 15 Prozent kam. Der
Thüringer BSW-Landesverband hatte sich erst Mitte März gegründet.
Größter Verlierer bei der Europawahl war die Linke von Thüringens
Ministerpräsident Bodo Ramelow - ihr Ergebnis von 5,7 Prozent lag um
8,1 Prozentpunkte niedriger als bei der Europawahl 2019. Die SPD kam
auf 8,2 Prozent, die Grünen auf 4,2 und die FDP auf 2,0 Prozent. Die
Wahlbeteiligung lag bei 61,9 Prozent und damit leicht über dem
Ergebnis vor fünf Jahren.

Experte Brodocz sagte, dass mit dem BSW für die AfD eine Konkurrenz
erwachse. Es gebe damit quasi eine «Alternative zur Alternative». Das
gelte vor allem, aber nicht nur bei Protestwählern. Für eine
Parteineugründung in diesem Jahr sei das BSW-Europawahlergebnis in
Deutschland insgesamt, vor allem aber im Osten sehr beachtlich, sagte
Brodocz. «Das hat weitreichende Auswirkungen.» Erstmals seit mehreren
Jahren gebe es in Thüringen, wo am 1. September ebenso wie in Sachsen
ein neuer Landtag gewählt wird, rechnerisch eine Mehrheit jenseits
der AfD. Sollten sich Umfragewerte stabilisieren, sehe er diese
Mehrheit bei CDU, SPD und BSW.

Das Ergebnis des BSW wertete Landesparteichefin Katja Wolf als
Rückenwind für die Landtagswahl. «Das ist für uns natürlich ein
großer Erfolg. Mit dem ich in der Größenordnung auch nicht gerechnet

habe», sagte Wolf der dpa.

SPD-Chef fordert Ost-Themen

Maier räumte ein, dass es der SPD bei der Europawahl nicht gut
gelungen sei, ihre Themen zu setzen. «Das wir in Ostdeutschland die
niedrigsten Durchschnittsrenten haben, die niedrigsten
Durchschnittslöhne, muss einfach auf die Tagesordnung ganz nach
oben.» 

Nach Maiers Einschätzung wählten die Menschen in Thüringen die AfD
nicht nur aus Protest. «Es sind doch sehr viele, die sie aus
Überzeugung wählen. Also es sind keine Protestwähler, sondern die
wollen eine Partei wählen, die rechtsextrem ist und ein autoritäres
Staatsverständnis hat.» Brodocz geht davon aus, dass zwei von drei
AfD-Wählern eine relativ feste Parteibindung entwickelt haben. «Sie
fühlen sich der AfD verbunden, weil sie sich mit ihren politischen
Forderungen identifizieren.» An ihnen perlten auch die Skandale
einzelner AfD-Politiker ab. 

Duell von CDU und AfD bei der Landtagswahl 

Das recht gute Abschneiden der CDU, die nach der Landtagswahl einen
Regierungswechsel anpeilt, bewertete der Politikwissenschaftler
differenziert. Die Partei mit ihrem Spitzenkandidaten Mario Voigt
habe ihre Stellung behauptet und die Erwartung auf ein Duell mit der
AfD bei der Landtagswahl untermauert. «Aber der Abstand zur AfD im
Vergleich zu Umfragen wurde nicht substanziell verkleinert.»

Bei der Europawahl waren rund 1,7 Millionen Thüringer aufgerufen,
über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments zu entscheiden.
Nach Angaben des Landeswahlleiterbüros ziehen aus dem Freistaat die
CDU-Politikerin Marion Walsmann und Thüringens AfD-Vizechef René Aust
dort ein. Aust führt die künftige AfD-Delegation im Europaparlament,
wie Co-Parteichefin Alice Weidel mitteilte. 

Machtwechsel in Erfurt

Rund 1,3 Millionen Menschen waren am Sonntag auch dazu aufgerufen, in
Stichwahlen zu entscheiden, wer Landrat oder Oberbürgermeister werden
soll. In neun von 15 Stichwahlen mischten AfD-Kandidaten mit, die
alle scheiterten. Bei den Kreistags- und Stadtratswahlen vor zwei
Wochen schaffte es die Partei aber, teils als stärkste Kraft durchs
Ziel zu gehen. Brodocz wies darauf hin, dass es weiter politische
Gestaltungsmöglichkeiten jenseits der Partei am rechten Rand gebe.
«Im Alltag der Menschen wird das zunächst keine so starken
Auswirkungen haben.»

In Erfurt führte die Stichwahl am Sonntag zum Machtwechsel:
Oberbürgermeister und Amtsinhaber Andreas Bausewein von der SPD
erhielt 35,8 Prozent, Andreas Horn von der CDU kam auf 64,2 Prozent.
Bausewein war zuletzt stark in die Kritik geraten, vor allem wegen
seines Agierens bei Personalquerelen am Erfurter Theater. Er stand 18
Jahre lang an der Spitze der Landeshauptstadt. 

Auch in Gera wurde der Amtsinhaber abgewählt: Julian Vonarb verlor
die Stichwahl gegen den bisherigen Ordnungsdezernenten Kurt
Dannenberg von der CDU. Im Unstrut-Hainich-Kreis verlor überraschend
der langjährige Amtsinhaber Harald Zanker (SPD) sein Amt. Landrat
wird nun mit Thomas Ahke ein Kandidat der Freien Wähler.