Der Osten ist blau: Wie umgehen mit der AfD? Von Christopher Kissmann, Jörg Schurig, Simone Rothe und Verena Schmitt-Roschmann, dpa

10.06.2024 15:49

Bei den Europa- und Kommunalwahlen in Ostdeutschland hat die AfD so
gut abgeschnitten wie nie. Nun stehen im Herbst wichtige
Landtagswahlen an. Kommt die Rechtsaußenpartei an die Macht?

Erfurt/Dresden (dpa) - Der Osten ist blau. So sieht die
Deutschlandkarte am Tag nach der Europawahl aus, jedenfalls auf den
ersten Blick. In allen fünf ostdeutschen Flächenländern ist die AfD
stärkste Kraft - trotz aller Proteste und Warnungen vor der in Teilen
rechtsextremen Partei, trotz ihrer Personalquerelen, trotz
Spionagevorwürfen. Auch bei den Kommunalwahlen liegt sie vielerorts
vorn. Die AfD wird also gewählt - nicht nur in Ostdeutschland, aber
besonders häufig dort. Und nun? 

Bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im
September erwarten Experten ähnliche Ergebnisse. Es scheint sogar
nicht völlig ausgeschlossen - wenn auch sehr unwahrscheinlich -, dass
die AfD erstmals einen Ministerpräsidenten stellen könnte. Den
Machtanspruch formuliert die Partei klar. Darauf verlassen kann sich
die AfD aber nicht. «Es gibt jetzt keinen Grund für Ohnmacht», sagt
der Extremismusforscher Matthias Quent der Deutschen Presse-Agentur.

Warum die AfD so stark abschnitt

Die AfD-Ergebnisse von um die 30 Prozent in den östlichen Ländern
sind aus Sicht von Experten nicht nur Protest. Gerade in
Ostdeutschland habe viele Menschen das Thema Krieg und Frieden
bewegt, also der künftige Umgang mit der Ukraine, sagt der Berliner
Politikwissenschaftler Thorsten Faas. Hier hätten AfD und das Bündnis
Sahra Wagenknecht andere Positionen vertreten als die übrigen
Parteien. «Und das scheint mir einer der Hauptgründe zu sein, warum
viele dann auch dort ihr Kreuzchen gemacht haben.» Die AfD werde
durchaus aus inhaltlichen Gründen gewählt. 

«Seit längerem finden große Teile der ostdeutschen Bevölkerung, das
s
ihre Positionen in der Politik in Deutschland und Europa zu wenig
abgebildet sind», berichtet die Leipziger Sozialwissenschaftlerin
Astrid Lorenz. Sie nennt auch die Themen Klimaschutz und
Sicherheitslage, die in Ostdeutschland kritisch gesehen würden. 

Der Erfurter Politikwissenschaftler André Brodocz geht davon aus,
dass zwei von drei AfD-Wählern eine relativ feste Parteibindung
entwickelt haben. Sie fühlen sich der AfD verbunden, «weil sie sich
mit ihren politischen Forderungen identifizieren». An ihnen perlten
auch die Skandale einzelner AfD-Europapolitiker oder eine noch nicht
rechtskräftige Verurteilung von Thüringen Rechtsaußen Björn Höcke

wegen Nutzung von Nazi-Parolen ab.

Die AfD sieht das Ende der Brandmauer gekommen

Die AfD sei kommunal immer stärker verankert, beobachtet der
Soziologe Quent. Wenn sie im Kommunalparlament stärkste Fraktion sei,
könne man noch weniger an ihr vorbei Politik betreiben. «Das ist ja
auch die Strategie, sich über die kommunalen Parlamente so zu
normalisieren, dass dann in nächster Instanz auf der Länderebene eben
auch eine Zusammenarbeit in greifbarere Nähe rückt», meint der
Forscher.

AfD-Parteichef Tino Chrupalla bestätigt das. «Es wird keine
Brandmauern mehr geben, weil diese Brandmauern eingestürzt sind»,
sagt Chrupalla im Deutschlandfunk. «Der Landrat, aber umgekehrt
natürlich auch der Kreistag muss mit dem Landrat zusammenarbeiten.»
Die langfristige Ambition: Ob nun 2029 oder 2032, irgendwann werde
man «auch in Fläche die Hauptverantwortung in Landräten und
Bürgermeistern stellen», sagt Chrupalla. 

Seine Parteikollegen in den Ländern hoffen auf schnellere Erfolge.
«Wir haben die SPD als führende Kraft in diesem Land abgelöst», sag
t
zum Beispiel Brandenburgs Landeschef René Springer. Das Ziel sei, bei
der Landtagswahl am 22. September über 30 Prozent zu kommen.
Sachsen-Anhalts Co-Fraktionschef Ulrich Siegmund bezeichnet die AfD
als «die neue Volkspartei» und zielt auf eine Regierungsübernahme
2026 in Sachsen-Anhalt. «Unser Plan ist es, hier allein zu regieren.»

Stark, aber ohne Machtoption

Die absolute Mehrheit für die AfD? Davon ist die Partei auch mit
Werten um die 30 Prozent noch ein gutes Stück entfernt. «Um Politik
zu gestalten, müsste die AfD koalitionsfähig werden», sagt Brodocz.
Ohne reale Machtoption könnten «ihre Wähler auf Dauer möglicherweis
e
unzufrieden» werden. Koalitionspartner sind aber nirgends in Sicht.

Überhaupt lohnt ein genauer Blick. Nicht überall im Osten ist die AfD
gleich stark. Die Stichwahlen um Kommunalämter in Thüringen verlor
sie. Und Hochburgen gibt es inzwischen auch in westdeutschen
Regionen, etwa im Ruhrgebiet, wie der Düsseldorfer Politologen Stefan
Marschall berichtet. Das beste Ergebnis in NRW bei der Europawahl
hatte die AfD mit 21,7 Prozent in Gelsenkirchen. Marschall führt das
zurück auf eine matte SPD. Diese Analyse sticht vielerorts auch im
Osten: Die Stärke der AfD liegt eben auch in der Schwäche der
etablierten Parteien. 

So erzielte die AfD in Sachsen bei der Europawahl 31,8 Prozent und
damit mehr als doppelt so viel wie die Ampel-Parteien zusammen: SPD
6,9 Prozent, Grüne 5,9 Prozent und FDP 2,4 Prozent. Die CDU hat
immerhin noch 21,8 Prozent und das Bündnis Sahra Wagenknecht aus dem
Stand heraus 12,6 Prozent. Das ist der Grund, warum ein
AfD-Ministerpräsident in Sachsen nicht völlig ausgeschlossen wird:
Verlieren die Ampel-Parteien weiter, könnte es ein
Drei-Parteien-Parlament geben und im Extremfall eine Mehrheit der
Mandate für die AfD. Aktuell unwahrscheinlich, aber nicht undenkbar.

«Keine Partei kann sich in Sicherheit wiegen»

Denkbar wäre aber auch, dass andere Parteien sich stabilisieren -
nicht nur Meinungsforscher kennen Wählerinnen und Wähler inzwischen
als sehr wechselfreudig. «Keine der Parteien kann sich in Sicherheit
wiegen», sagt Parteienforscher Faas von der Freien Universität
Berlin. «Auch in kürzester Zeit kann sich beim Wahlverhalten
unglaublich viel bewegen.» 

Der Soziologe Quent sieht Handlungsspielräume, um die AfD zu bremsen.
Die Mobilisierung anderer Parteien in Thüringen habe beispielsweise
dazu geführt, dass sich die AfD dort bei den Landratswahlen nicht
habe durchsetzen können. Bei den Landtagswahlen werde auch der
Amtsinhaberbonus eine Rolle spielen, meint er. Der Leipziger
Soziologe Johannes Kiess riet den jetzigen Wahlverlierern: «Es kommt
viel darauf an, wie sich die demokratischen Parteien nun verhalten.
Nur auf die AfD zu zeigen, wird nicht viel helfen. Die Parteien
müssen wieder in den konstruktiven Modus schalten.»