Rechts auf dem Vormarsch: Was die Europawahl für die EU bedeutet Von Ansgar Haase, Rachel Boßmeyer und Christoph Sator, dpa

10.06.2024 16:19

Aus Sicht der Regierungsparteien in Deutschland war die Europawahl
ein Debakel. Rechte können hingegen feiern. Nun stellt sich die Frage
nach möglichen Bündnissen.

Brüssel (dpa) - Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien: In fast
allen großen EU-Staaten haben rechte Parteien bei der Europawahl
deutlich zugelegt. Doch wird sich das wirklich auf die Politik in
Brüssel auswirken? Fragen und Antworten im Überblick:

Geben jetzt Le Pen, Meloni und Co. den Ton an? 

Nein. Der Kurs der EU wird in erster Linie vom Europäischen Rat
vorgegeben, dem Gremium der 27 Staats- und Regierungschefs. Dort
ändert sich durch die Europawahl erst einmal nichts. In dem Rat, der
regelmäßig zu Gipfeln zusammenkommt, sind derzeit die Parteien des
Mitte-Rechts-Bündnisses EVP mit aktuell 13 Staats- und
Regierungschefs klar stärkste politische Kraft. Danach kommen die
Lager der Sozialdemokraten und der Liberalen. Klare
Rechtsaußen-Politiker im Rat sind bislang nur Italiens
Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und Ungarns Regierungschef Viktor
Orban.

Im Europaparlament bleibt die EVP ebenfalls deutlich stärkste
politische Kraft. Selbst wenn sich alle rechten Parteien
zusammenschlössen, kämen sie voraussichtlich auf weniger als 200 der
künftig 720 Sitze - weit entfernt von einer eigenen Mehrheit. Das
bedeutet auch, dass EVP-Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen rein
rechnerisch nicht auf Stimmen aus dem Rechtsaußen-Lager angewiesen
ist, um eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin zu bekommen.
Eigentlich reicht eine informelle Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten
und Liberalen aus, wie bereits 2019 vor der damaligen Wahl von der
Leyens vereinbart.

Wie geht es mit der AfD im Europaparlament weiter?

Das ist noch unklar. Die bisherigen AfD-Abgeordneten wurden kurz vor
der Europawahl aus der rechtsnationalen ID-Fraktion ausgeschlossen.
Hintergrund waren Äußerungen des AfD-Spitzenkandidaten Maximilian
Krah zur SS der Nationalsozialisten und eine China-Spionageaffäre um
einen seiner Mitarbeiter. Am Montag beschlossen die anderen neu
gewählten AfD-Abgeordneten, Krah gar nicht erst in ihre neue
Delegation aufzunehmen. Dies könnte den Weg für eine Zusammenarbeit
mit anderen Rechtsparteien wieder freimachen. Infrage kommen dafür
etwa die Fratelli d'Italia (Brüder Italiens) von Meloni und die
französische Partei Rassemblement National um Marine Le Pen - beide
in ihren Ländern klare Wahlsieger. 

Könnte es zur Gründung einer neuen großen Rechtsaußen-Fraktion
kommen?

Auch das ist noch ungewiss. Le Pen wirbt derzeit zwar bei Meloni für
eine Vereinigung, um die zweitgrößte Fraktion im Europäischen
Parlament zu bilden. Dagegen spricht, dass Meloni auch von der
mächtigen EVP umworben wird. Für eine zumindest lose Zusammenarbeit
mit der EVP spricht aus Sicht der Italienerin, dass sie dann deutlich
näher am Machtzentrum der EU wäre. Geht Meloni hingegen eine enge
Allianz mit Le Pen ein, dürfte dies einer Zusammenarbeit mit der EVP
entgegenstehen - Le Pen wird von der EVP noch immer als EU-feindlich,
Russland-nah und rechtsextrem verteufelt - trotz deren Bemühungen,
sich von ihrem Vater Jean-Marie Le Pen zu distanzieren.

Welche Rolle spielt Le Pen künftig auf EU-Ebene?

Die Rechtsnationale sieht sich durch das gute Abschneiden bei der
Europawahl klar im Aufwind, allerdings mehr noch auf nationaler Ebene
als auf europäischem Parkett. Sie wird weder ins EU-Parlament
einziehen noch bei den Treffen der Staats- und Regierungschefs dabei
sein - und daher eher indirekt Einfluss nehmen. Das Wahlergebnis
sieht sie als klaren Auftrag, Europa zu verändern. Sie will mehr
Mitsprache der Nationalstaaten, sich von Brüssel bei der
Migrationspolitik nicht reinreden lassen und die Handelspolitik
protektionistischer gestalten. Deutlich mehr Gewicht könnte die
Stimme der 55-Jährigen bekommen, wenn ihre Partei die vorgezogene
Parlamentswahl in Frankreich in diesem Sommer gewinnt und Präsident
Emmanuel Macron gezwungen wäre, einen Regierungschef aus ihren Reihen
zu ernennen.

Und was ist mit Meloni?

Die 47-Jährige ist die neue starke Frau Europas: Seit Angela Merkel
war keine Regierungschefin in der EU mehr so mächtig. Mit dem
Wahlsieg ihrer Fratelli d'Italia, die im Unterschied zu den meisten
anderen Regierungsparteien in der EU nochmals zulegen konnte, hat
Meloni noch einmal an Einfluss gewonnen. Das wird man diese Woche
schon beim G7-Gipfel der großen Industrienationen merken, wenn die
Italienerin Gastgeberin ist. Dann geht es auch um die Frage, ob sie
von der Leyen unterstützt. Im Vergleich zu den Wahlverlierern Olaf
Scholz und Macron steht sie bestens da.

Immer noch wird gerätselt, wie viel Gedankengut Meloni von ihren
postfaschistischen Anfängen behalten hat. Ist sie tatsächlich in die
Mitte gerückt - oder tut sie nur so? In der Außenpolitik hat sie sich
bislang als zuverlässige Partnerin bewiesen. Mit großem Interesse
wird auch verfolgt, ob sie nun eine größere Nähe zur Le Pen suchen
wird. Wird das Partnerschaft oder Konkurrenz? Denn wenn Le Pen die
Parlamentswahl in Frankreich gewinnt, könnte es mit Melonis Stellung
als klare Nummer eins der Rechten in Europa schon wieder vorbei
sein. 

Dürfte die EU dauerhaft nach rechts rücken?

Dies ist vor allem davon abhängig, wie die nächsten Wahlen in den
Mitgliedstaaten verlaufen. Nach den Erfolgen der FPÖ bei der
Europawahl ist denkbar, dass die rechte Partei dort auch die nächste
Parlamentswahl gewinnt und dann auch den österreichischen
Bundeskanzler stellt. Ganz entscheidend dürfte zudem sein, ob es Le
Pen gelingt, 2027 in Frankreich Präsidentin zu werden. Dass rechte
Parteien nicht überall einen Lauf haben, zeigte sich zuletzt in
Polen, wo die rechtsnationale PiS die Macht im vergangenen Jahr an
ein Bündnis um den früheren EU-Ratspräsidenten Donald Tusk abgeben
musste. Gegen den Trend geht es zudem auch in Ungarn: Dort musste die
Fidesz-Partei von Orban am Sonntag ihr bisher schlechtestes Ergebnis
bei einer Europawahl hinnehmen.