Historischer Tag: EU startet Beitrittsgespräche mit Ukraine und Moldau Von Ansgar Haase, dpa

25.06.2024 16:18

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat unerwartete Dynamik in den
Prozess der EU-Erweiterung gebracht. Nun können zwei Länder einen
wichtigen Zwischenschritt feiern. Nicht jeder freut sich allerdings.

Luxemburg (dpa) - Wenn es um die Frage ging, welche Länder irgendwann
einmal den Beitritt zur EU schaffen könnten, war jahrelang vor allem
von Balkanstaaten wie Montenegro oder Serbien die Rede. Russlands
Kriegspolitik hat dies grundlegend geändert. Die Ukraine und ihr
kleiner Nachbarstaat Moldau sind in kürzester Zeit zu
EU-Beitrittskandidaten geworden und feierten am Dienstag den
offiziellen Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen. Ist die EU schon
bald größer als vor dem Brexit?

Was bedeutet die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen?

Relevant ist der Schritt vor allem psychologisch und symbolisch. Die
EU zeigt den schätzungsweise mehr als 35 Millionen Menschen in der
Ukraine und den 2,4 Millionen Menschen in Moldau, dass sie eine
Perspektive haben, EU-Bürger zu werden. Er soll ein Zeichen sein,
dass es sich lohnt, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen. Der
CDU-Außenpolitiker Michael Gahler sagte zum Start des
Verhandlungsprozesses, für die Menschen in der Ukraine sei die
Europäische Union «der verheißungsvolle Fluchtort aus dem düsteren

Kriegsalltag». Sie setzten große Hoffnungen auf EU. 

Gilt das gleiche auch für Moldau?

Da es in Moldau keinen Krieg gibt, ist die Lage dort etwas anders,
die EU hat aber auch ein strategisches Interesse daran, die Bürger
des ukrainischen Nachbarstaates auf EU-Kurs zu halten. «Die Republik
Moldau wird wegen ihrer Solidarität mit der Ukraine und der
proeuropäischen Orientierung, angeführt von Präsidentin Maia Sandu,
vom Kreml offen ins Visier genommen», erklärt David McAllister (CDU),
der zuletzt Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Europäischen
Parlament war. Das zeige sich besonders vor den anstehenden
Präsidentschaftswahlen im Oktober. 

Worum geht es in den Beitrittsverhandlungen?

Grundsätzlich ist der Begriff Verhandlungen etwas irreführend.
Letztendlich geht es nämlich darum, dass die EU den Kandidatenländern
sagt, was sie noch zu tun haben, um in die Union aufgenommen zu
werden. Dabei geht es vor allem darum, nationale Rechtsvorschriften
an EU-Recht anzupassen und die Wirtschaft und die Verwaltung
EU-tauglich zu machen. Um den Prozess übersichtlicher zu gestalten,
wurde er in 35 sogenannte Kapitel eingeteilt. Am Anfang geht es vor
allem darum, dass das Land die grundlegenden Beitrittsvoraussetzungen
erfüllt. Dazu geht es dann um Themen wie Rechtsstaatlichkeit und
Justiz.

Bei den Beitrittskonferenzen am Dienstag in Luxemburg ging es erst
einmal darum, die Leitlinien und Grundsätze für die Verhandlungen
vorzustellen. Die ersten Verhandlungskapitel dürften nach Angaben von
EU-Diplomaten im Verlauf der nächsten zwölf Monate eröffnet werden.
Bis dahin muss die EU-Kommission noch in einem sogenannten Screening
für die Verhandlungskapitel prüfen, inwieweit das nationale Recht der
Beitrittskandidaten noch vom EU-Recht abweicht.

Wie lange werden die Beitrittsverhandlungen dauern?

Das ist vollkommen unklar und hängt vor allem von den
Reformfortschritten der Kandidatenländer ab. Die
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wurden beispielsweise bereits
2005 gestartet - und heute liegen sie wegen Rückschritten bei der
Rechtsstaatlichkeit komplett auf Eis. Relevant ist auch, dass für das
Öffnen und Schließen der 35 Verhandlungskapitel eine einstimmige
Entscheidung aller EU-Staaten notwendig ist. Dies birgt
Blockade-Risiken.

Wer könnte ein Veto einlegen?

Vor allem bei der Ukraine gilt Ungarn als Risikofaktor. So sagte
Regierungschef Viktor Orban den Zeitungen der Funke Mediengruppe zum
Gesprächsstart, die Sache sei für ihn «ein rein politisch motivierter

Prozess». Er halte es nicht für gut, Verhandlungen zu beginnen, ohne
Klarheit in bestimmten Fragen zu haben. Als Beispiele nannte er, dass
man aus seiner Sicht erst prüfen müsse, was die Folgen wären, wenn
man ein Land im Krieg aufnehme, dessen Grenzen in der Praxis nicht
geklärt seien. Zudem müsse geprüft werden, was für Folgen der
Beitritt des riesigen Landes für die Landwirtschaft der EU hätte.

Hat Orban da einen Punkt?

Die riesige Landwirtschaft der Ukraine würde tatsächlich eine
umfangreiche Reform der EU-Agrarförderungen notwendig machen.
EU-Experten rechneten zuletzt aus, dass ohne Änderungen in einem
Haushaltszeitraum von sieben Jahren EU-Mittel in Höhe von insgesamt
186 Milliarden Euro in die Ukraine fließen würden. Beim Thema Grenzen
gilt, dass die Ukraine vermutlich nicht EU-Mitglied werden kann,
bevor nicht der Krieg mit Russland beendet wurde. Denn sonst könnte
Kiew nach Artikel 42, Absatz 7 des EU-Vertrags militärischen Beistand
von anderen EU-Staaten einfordern - und die EU wäre offiziell
Kriegspartei.

Bräuchte es nur in der EU-Landwirtschaft Reformen vor einer
EU-Erweiterung?

Grundsätzlich sind viele in der EU der Ansicht, dass eine Aufnahme
von großen Ländern wie der Ukraine nur dann zu einem Erfolg werden
kann, wenn es zuvor eine umfangreiche EU-Reform gibt. Die
Entscheidungsprozesse im Bereich der Außenpolitik sind beispielsweise
schon heute teilweise sehr schwerfällig, weil in der Regel das
Einstimmigkeitsprinzip gilt.

Wie sieht die Bundesregierung in Berlin die Eröffnung der
Beitrittsverhandlungen?

Europastaatsministerin Anna Lührmann (Grüne) sprach von einem
historischen Tag für Europa. Sowohl die Ukraine als auch Moldau
hätten trotz der russischen Bomben, der Desinformations-Kampagnen und
der Destabilisierungsversuche bereits große Fortschritte erzielt. Auf
dem Weg in die EU müssten noch viele Reformen folgen. Der Tag der
Eröffnung der Beitrittsverhandlungen sei aber ein Tag zu feiern - am
nächsten Tag gehe die Arbeit weiter.