Tag der Entscheidung: EU-Parlament stimmt über von der Leyen ab Von Ansgar Haase und Marek Majewsky, dpa

17.07.2024 16:35

Kurz vor der entscheidenden Abstimmung über eine zweite Amtszeit für
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen spricht ein Gericht ein
brisantes Urteil. Wird es auf den letzten Metern noch einmal eng?

Straßburg (dpa) - Wenn Ursula von der Leyen an diesem
Donnerstagmorgen gegen 9.00 Uhr an das Redepult im Europaparlament in
Straßburg tritt, geht es um alles oder nichts. Zum letzten Mal hat
die Deutsche dann die Möglichkeit, Abgeordnete davon überzeugen, dass
sie von der Gruppe der Staats- und Regierungschefs zu Recht für eine
zweite Amtszeit als Präsidentin der Europäischen Kommission nominiert
wurde. Kurz zuvor will die 65-Jährige noch eine Übersicht mit ihren
politischen Plänen für die kommenden fünf Jahre veröffentlichen.

Um 13.00 Uhr werden die mehr als 700 Abgeordneten nach einer Debatte
aufgerufen sein, ihre Stimme abzugeben. Wenn nicht mindestens eine
absolute Mehrheit mit Ja votiert, ist die Brüsseler Karriere der
früheren deutschen Ministerin vorerst zu Ende. Die Staats- und
Regierungschefs der EU-Staaten müssten innerhalb eines Monats einen
neuen Kandidaten vorschlagen.

Ungemütlich ist die Lage für von der Leyen insbesondere wegen der
Mehrheitsverhältnisse im neuen Europaparlament. Ihr
Mitte-Rechts-Bündnis EVP, zu dem auch CDU und CSU gehören, hat die
Europawahl Anfang Juni zwar klar gewonnen und besetzt nach jüngsten
Angaben 188 Sitze im neuen Parlament. Für die notwendige Mehrheit
braucht es allerdings fast doppelt so viele Stimmen. Diese sollen
über eine informelle Koalition mit den europäischen Sozialdemokraten
und Liberalen sowie über inhaltliche Zusagen an die Grünen gewonnen
werden.

Zankapfel Verbrenner-Aus

Von der Leyen betont so immer wieder, dass sie trotz Gegenwind aus
Wirtschaft und Landwirtschaft zu ihrem als «Green Deal» bezeichneten
Programm für eine klimaneutrale EU bis 2050 steht. Bei Details muss
sie allerdings vage bleiben. So fordern die deutschen Liberalen vor
der Wahl von Ursula von der Leyen, sich für eine Rücknahme des
bereits beschlossenen Verbots von neuen Verbrenner-Autos ab 2035
einzusetzen. Grüne könnte eine solche Zusage hingegen von einer Wahl
von der Leyens abhalten.

Verkompliziert wird die Sache noch dadurch, dass in geheimer
Abstimmung gewählt wird - und es keinen Fraktionszwang gibt. 2019
bekam von der Leyen bei ihrer Wahl gerade einmal neun Stimmen mehr
als notwendig.

Brisantes Urteil am Vortag der Wahl

Zu Unzeiten kam für von der Leyen deswegen an diesem Mittwoch ein
Urteil des EU-Gerichts zum Umgang ihrer Behörde mit den
milliardenschweren Corona-Impfstoffverträgen. Dieses kommt zu dem
Ergebnis, dass die Kommission mit der Geheimhaltung von Informationen
gegen EU-Recht verstoßen hat. Problematisch könnte dies für von der
Leyen sein, weil ihr aus dem Parlament seit Jahren Intransparenz in
ihrer Amtsführung vorgeworfen wird.

Schneller und ausführlicher als üblich reagierte die Kommission so
auf das Urteil und wies darauf hin, dass sie in dem Verfahren in
weiten Teilen Recht bekommen habe. Es hieß, die Kritik des Gerichts
beziehe sich insbesondere auf Geheimhaltungsinteressen der
Pharmaindustrie, die die Kommission nicht ignorieren könne, ohne
Schäden als Verhandlungspartner befürchten zu müssen.

Werden die Abgeordnete diese Argumentation kaufen? Oder wird sich
doch der ein oder andere von dem Urteil beeinflussen lassen und von
der Leyen die Stimme verweigern? Klarheit soll es gegen 15.00 Uhr
geben, wenn die Stimmen im Parlament ausgezählt sein sollen. Aus
nationalen Delegationen war zuletzt zu hören, dass informelle
Umfragen unter Abgeordneten darauf hindeuten, dass von der Leyen aus
dem Lager EVP, Liberale, Sozialdemokraten und Grüne zwischen 365 und
420 Stimmen bekommen könnte - diese wurden allerdings vor dem Urteil
des EU-Gerichts durchgeführt.

Orban gibt Vorlage

Gehofft wird im EVP-Lager, dass von der Leyen zumindest mit ihrer
Reaktion auf den diplomatischen Alleingang des ungarischen
Regierungschefs Viktor Orban in der Ukraine-Politik bei einigen
kritischen Abgeordneten punkten konnte. Sie hatte nach der
Moskau-Reise Orbans angekündigt, dass Spitzenvertreter ihrer
Institution vorerst nicht mehr zu von der ungarischen
EU-Ratspräsidentschaft organisierten Ministertreffen reisen werden.
Zuvor hatte von der Leyen wegen ihres Umgangs mit Orban stark in
Kritik gestanden. So wurde die EU-Kommission jüngst sogar vom
Parlament verklagt, weil sie aus Sicht einer Mehrheit der
Abgeordneten zu unrecht EU-Fördergelder für Ungarn freigegeben hat.

Und schließlich müssen sich die Abgeordneten auch noch die Frage
stellen, ob sie es riskieren wollen, die EU in der aktuellen
weltpolitischen Lage in politisches Chaos zu stürzen. Selbst
überzeugte Gegner von der Leyen können derzeit niemanden anders
nennen, der realistische Chancen hätte, im Parlament mehr Stimmen zu
bekommen, als von der Leyen. Zudem gilt, dass von der Leyen in diesem
Jahr immerhin als Spitzenkandidatin für das Amt angetreten war und
damit eine Forderung erfüllt hatte, die das Parlament selbst gestellt
hat.