Schicksalswahl: EU-Parlament stimmt über von der Leyen ab

18.07.2024 07:57

Ob die EU-Karriere von Ursula von der Leyen noch fünf Jahre
weitergeht, liegt in den Händen des Europaparlaments. Heute ist der
Tag der Entscheidung - wenn nicht noch ein Antrag von Linken
durchgeht.

Straßburg (dpa) - Schafft sie es? Oder scheitert sich auf den letzten
Metern? Wenn Ursula von der Leyen heute Vormittag gegen 9.00 Uhr an
das Redepult im Europaparlament in Straßburg tritt, geht es um alles
oder nichts. Zum letzten Mal hat die Deutsche dann die Möglichkeit,
Abgeordnete von sich zu überzeugen. Die Gruppe der EU-Staats- und
Regierungschefs hat sie bereits für eine zweite Amtszeit als
Präsidentin der Europäischen Kommission nominiert, doch das
Europäische Parlament hat das letzte Wort.

Wenige Stunden nach der Rede, um 13.00 Uhr werden die mehr als 700
Abgeordneten aufgerufen sein, ihre Stimme abzugeben. Wenn nicht mehr
als die Hälfte aller Stimmberechtigten mit Ja votiert, ist die
EU-Karriere der früheren deutschen Ministerin vorerst zu Ende. Die
Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten müssten innerhalb eines
Monats einen neuen Kandidaten vorschlagen. 

Mehrheit nicht garantiert

Ungemütlich ist die Lage für von der Leyen insbesondere wegen der
Mehrheitsverhältnisse im neuen Europaparlament. Ihr
Mitte-Rechts-Bündnis EVP, zu dem auch CDU und CSU gehören, hat die
Europawahl Anfang Juni zwar klar gewonnen und besetzt nach jüngsten
Angaben 188 Sitze im neuen Parlament. Für die notwendige Mehrheit
braucht es allerdings fast doppelt so viele Stimmen. Diese sollen
über eine informelle Koalition mit den europäischen Sozialdemokraten
und Liberalen sowie über inhaltliche Zusagen an die Grünen gewonnen
werden.

Zankapfel Verbrenner-Aus

Von der Leyen betont so immer wieder, dass sie trotz Gegenwind aus
Wirtschaft und Landwirtschaft zu ihrem als «Green Deal» bezeichneten
Programm für eine klimaneutrale EU bis 2050 steht. Bei Details muss
sie allerdings vage bleiben. So fordern die deutschen Liberalen vor
der Wahl von Ursula von der Leyen, sich für eine Rücknahme des
bereits beschlossenen Verbots von neuen Verbrenner-Autos ab 2035
einzusetzen. Grüne könnte eine solche Zusage hingegen von einer Wahl
von der Leyens abhalten.

Verkompliziert wird die Sache noch dadurch, dass in geheimer
Abstimmung gewählt wird - und es keinen Fraktionszwang gibt. 2019
bekam von der Leyen bei ihrer Wahl gerade einmal neun Stimmen mehr
als notwendig.

Brisantes Urteil am Vortag der Wahl

Zu Unzeiten kam für von der Leyen deswegen an diesem Mittwoch ein
Urteil des EU-Gerichts zum Umgang ihrer Behörde mit den
milliardenschweren Corona-Impfstoffverträgen. Dieses kommt zu dem
Ergebnis, dass die Kommission mit der Geheimhaltung von Informationen
gegen EU-Recht verstoßen hat. Problematisch könnte dies für von der
Leyen sein, weil ihr aus dem Parlament seit Jahren Intransparenz in
ihrer Amtsführung vorgeworfen wird.

Abgeordnete aus dem linken Lager forderten am Abend, wegen des
Urteils die Abstimmung über von der Leyen so lange zu verschieben,
bis vom Urteil betroffene Dokumente freigegeben sind. Dass der
Vorstoß im gesamten Parlament die erforderliche Unterstützung
bekommt, gilt jedoch als äußerst unwahrscheinlich.

Die Kommission hatte in Reaktion auf das Urteil betont, dass sie in
dem Verfahren in weiten Teilen Recht bekommen habe. Es hieß, die
Kritik des Gerichts beziehe sich insbesondere auf
Geheimhaltungsinteressen der Pharmaindustrie, die die Kommission
nicht ignorieren könne, ohne Schäden als Verhandlungspartner
befürchten zu müssen.

Wenn es wie geplant um 13.00 Uhr zur Abstimmung kommt, soll es gegen
15.00 Uhr nach der Stimmenauszählung Klarheit über die Zukunft von
Ursula von der Leyen geben. Aus nationalen Delegationen war zuletzt
zu hören, dass informelle Umfragen unter Abgeordneten darauf
hindeuten, dass sie aus dem Lager EVP, Liberale, Sozialdemokraten und
Grüne zwischen 365 und 420 Stimmen bekommen sollte - diese wurden
allerdings vor dem Urteil des EU-Gerichts durchgeführt.

Orban gibt Vorlage

Gehofft wird im EVP-Lager, dass von der Leyen zumindest mit ihrer
Reaktion auf den diplomatischen Alleingang des ungarischen
Regierungschefs Viktor Orban in der Ukraine-Politik bei einigen
kritischen Abgeordneten punkten konnte. Sie hatte nach der
Moskau-Reise Orbans angekündigt, dass Spitzenvertreter ihrer
Institution vorerst nicht mehr zu von der ungarischen
EU-Ratspräsidentschaft organisierten Ministertreffen reisen werden.

Zuvor hatte von der Leyen wegen ihres Umgangs mit Orban stark in
Kritik gestanden. So wurde die EU-Kommission jüngst sogar vom
Parlament verklagt, weil sie aus Sicht einer Mehrheit der
Abgeordneten zu unrecht EU-Fördergelder für Ungarn freigegeben hat.

Und schließlich müssen sich die Abgeordneten auch die Frage stellen,
ob sie es riskieren wollen, die EU in der aktuellen weltpolitischen
Lage in politisches Chaos zu stürzen. Selbst überzeugte Gegner von
der Leyen können derzeit niemanden anders nennen, der realistische
Chancen hätte, im Parlament mehr Stimmen zu bekommen, als von der
Leyen. Zudem gilt, dass sie in diesem Jahr immerhin als
Spitzenkandidatin für das Amt angetreten war und damit eine Forderung
erfüllt hatte, die das Parlament selbst gestellt hat.