EU-Schuldenregeln: Muss Lindner Brüssel um Aufschub bitten? Von Katharina Redanz und Theresa Münch, dpa
16.10.2024 15:44
Die Bundesregierung hat in Brüssel immer Druck für scharfe
Schuldenregeln gemacht. Jetzt hat sie womöglich selbst ein Problem.
Berlin/Brüssel (dpa) - In Brüssel gilt der deutsche Finanzminister
eigentlich als Verfechter strenger Ausgabenregeln für die
Hauptstädte. Doch jetzt drohen ausgerechnet Christian Lindner (FDP)
Probleme mit den EU-Schuldenregeln, die er selbst so hart
ausgehandelt hat. Ein Grund sind die mauen Erwartungen zur
Entwicklung der deutschen Wirtschaft.
Wie es in Kreisen des Finanzministeriums heißt, zieht die
Bundesregierung deshalb in Betracht, bei der EU-Kommission mehr Zeit
für die Anpassung ihrer Ausgaben zu beantragen. Statt eines
Vier-Jahre-Plans könnte Deutschland dann einen siebenjährigen Plan
für den Haushalt aufstellen.
Welche Vorgaben hat die EU Deutschland gemacht?
Die Europäischen Schuldenregeln gelten für alle Mitgliedsländer der
EU. Das Regelwerk, auch Stabilitäts- und Wachstumspakt genannt,
schreibt unter anderem vor, dass der Schuldenstand eines
Mitgliedstaates 60 Prozent der Wirtschaftsleistung nicht
überschreiten darf. Gleichzeitig muss das gesamtstaatliche
Finanzierungsdefizit unter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts
(BIP) gehalten werden.
Wer die Grenzen übertritt, riskiert ein Strafverfahren. Hoch
verschuldete Länder mit einem Schuldenstand von über 90 Prozent
müssen ihre Schuldenquote zudem jährlich um einen Prozentpunkt
senken, Länder mit Schuldenständen zwischen 60 und 90 Prozent um 0,5
Prozentpunkte. Deutschland liegt aktuell in der zweiten Kategorie:
Das Finanzministerium ging im Juni davon aus, dass die Schuldenquote
dieses Jahr rund 64 Prozent betragen wird.
Um für solide Finanzen zu sorgen, muss jedes Land zusammen mit der
EU-Kommission einen vierjährigen Haushaltsplan aufstellen. Dieser
hätte eigentlich bis Mitte Oktober bereits eingereicht werden sollen.
Deutschland hat dies aber - wie viele andere Länder auch - noch nicht
getan. Man sei in Kontakt mit der Brüsseler Behörde, hieß es.
Warum will Deutschland jetzt mehr Zeit?
Vier Jahre könnten für Deutschland nicht ausreichen, um die Brüsseler
Vorgaben zu erfüllen. Das will Lindner aber unbedingt. Denn er meint,
die Bundesrepublik müsse in der EU Vorbild und «Stabilitätsanker»
sein, damit sich andere Länder nicht noch höher verschulden.
Lindners Kernproblem: Es reicht nun nicht mehr aus, wenn Deutschland
seine eigene, im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse einhält. Denn
die EU blickt langfristiger auf die Tragfähigkeit eines Landes - und
berücksichtigt bei ihren Vorgaben zum Beispiel auch die Alterung der
Gesellschaft, dadurch fehlende Arbeitskräfte und die
Wirtschaftsprognosen. Hier schneidet Deutschland schlecht ab:
Langfristig wird gerade auch bei optimaler Auslastung der Wirtschaft
nur ein geringes Wachstum erwartet.
Zweites Problem: Weil 2024 mit seiner schlechten Konjunktur und dem
geplanten Nachtragshaushalt ein höheres Defizit bringt als
ursprünglich erwartet, ist der akute Anpassungsbedarf an die
EU-Vorgaben überraschend groß. Es wäre also noch mehr Sparen
angesagt, und zwar nicht nur im Bund, sondern womöglich auch in den
Ländern und Gemeinden. «Möglicherweise muss die gesamtstaatliche
Finanzpolitik doch ambitionierter sein», sagte der Vorsitzende des
unabhängigen Beirats des Stabilitätsrats, Thiess Büttner, kürzlich
der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung».
Was würde Deutschlands Antrag auf mehr Zeit bedeuten?
Sollte Berlin beantragen, statt eines vierjährigen Plans für den
Haushalt einen für sieben Jahre aufzustellen, ist das kein Verstoß
gegen die EU-Schuldenregeln. Denn diese erlauben eine Ausweitung
unter bestimmten Bedingungen - etwa wenn ein Land sich zu
wachstumsfördernden Reformen und Investitionen verpflichtet. Das
müsste Deutschland nachweisen, um eine Verlängerung zu bekommen.
Wie ist die Lage in anderen Ländern?
Andere Länder hatten zu strenge Schuldengrenzen immer wieder
kritisiert - unter anderem, weil sie Investitionen etwa in die grüne
Transformation hemmen könnten. Zudem haben einige Länder weitaus
höhere Schuldenquoten als die Bundesrepublik. Die höchsten gab es
nach Daten des EU-Statistikamtes Eurostat 2023 in Griechenland,
Italien, Frankreich, Spanien und Belgien. Einige Länder kündigten in
den vergangenen Wochen und Monaten bereits an, einen siebenjährigen
Haushaltsplan bei der EU-Kommission vorlegen zu wollen.
Lindner hatte sich dazu noch letzte Woche - als man seinen Angaben
nach in Berlin den Haushaltsplan noch vorbereitete - bei einem
Treffen mit seinen EU-Amtskollegen in Luxemburg leicht kritisch
geäußert: «Wir sehen, dass andere Mitgliedstaaten sich bereits
entschieden haben für eine siebenjährige Periode.» Er sei überzeugt
,
es brauche Ehrgeiz, um die öffentlichen Finanzen in Ordnung zu halten
oder zu bringen. «Und deshalb kann ich alle nur ermuntern,
strukturelle Reformen einzuleiten und vielleicht auch bisweilen
unpopuläre Entscheidungen zu treffen.»
Was bedeutet die Lage für den Bundeshaushalt - und auch für Länder
und Kommunen?
Ohne den Aufschub müsste Bund, Länder und Gemeinden im kommenden Jahr
zusätzliches Geld sparen, um das Ausgabenwachstum auf den in Brüssel
vorgegebenen Wert zu drücken. Angesichts der ohnehin schon
schwierigen Haushaltsverhandlungen, wo gerade im Bundestag jeder Euro
umgedreht wird, dürfte das schwerfallen.
Lindner gibt das alles aber zugleich neue Druckmittel in aktuellen
Ampel-Debatten um die Rente und das geplante Wachstumspaket. Diese
Initiative mit Steuererleichterungen für die Wirtschaft,
Arbeitsanreizen und günstigem Strom für die Industrie dürfte nun noch
wichtiger werden. Denn die Bundesregierung geht davon aus, dass die
Maßnahmen die langfristige Wirtschaftsentwicklung positiv
beeinflussen. Damit steigt der Druck auf die Länder, im Bundesrat
zuzustimmen und Einbußen bei den Steuereinnahmen zu akzeptieren.