Selenskyj wirbt bei EU-Gipfel für «Frieden durch Drohungen» Von Ansgar Haase, Michael Fischer und Marek Majewsky, dpa

17.10.2024 20:31

Die Ukraine will westliche Partner mit einem «Siegesplan» zu einem
Kurswechsel bei Waffenlieferungen bewegen. Bei einem EU-Gipfel nennt
der Präsident jetzt Details. Dabei geht es auch um Deutschland.

Brüssel (dpa) - Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat bei
einem Treffen mit den Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten um
die Unterstützung seines Plans für einen Sieg gegen Russland geworben
und dabei auch auf die Option einer atomaren Bewaffnung verwiesen.
Selenskyj sagte in Brüssel, der Ansatz sei, «Frieden durch Drohungen»

zu schaffen. Dazu sollten Deutschland, Frankreich, Italien,
Großbritannien und die USA dafür sorgen, dass in der Ukraine ein
passendes Raketen-Paket stationiert werden könne.

Dieses könnte Russland dann entweder in echte Friedensverhandlungen
zwingen oder die Zerstörung militärischer Ziele ermöglichen, erklär
te
Selenskyj. Es gehe darum, die Ukraine zu stärken, um dann bereit für
Diplomatie zu sein. Dabei hänge es vom Willen der Partner ab, ob sein
Plan umgesetzt werden könne. Die Option einer atomaren Bewaffnung der
Ukraine erwähnte Selenskyj in dem Zusammenhang mit dem Szenario, dass
ein Nato-Beitritt der Ukraine wegen des Vetos von Alliierten nicht
möglich sein sollte.

Siegesplan erfordert Kurswechsel von Partnern

Selenskyj spielte mit seinen Äußerungen darauf an, dass Kernpunkte
seines «Siegesplans» einen politischen Kurswechsel von Ländern wie
Deutschland erfordern würden. So lehnt es Bundeskanzler Olaf Scholz
(SPD) bislang ab, der Ukraine weitreichende Waffensysteme für
Angriffe auf Ziele im russischen Hinterland zu liefern. Ebenfalls
keine deutsche Unterstützung gibt es, für den ukrainischen Wunsch
nach einer schnellen und bedingungslosen Einladung in die Nato.

Scholz machte am Rande des Treffens deutlich, dass er trotz der
schwierigen militärischen Lage der Ukraine nicht von seinen
bisherigen Positionen abzurücken gedenkt. «Sie kennen die Haltung
Deutschlands in den Fragen, die da berührt sind. Daran wird sich auch
nichts ändern», sagte auf eine Frage zu Selenskyjs «Siegesplan».

Der ukrainische Präsident appellierte allerdings kurz darauf erneut
an Scholz. «Wir brauchen seine weitreichende Waffe», sagte er mit
Blick auf deutsche Marschflugkörper vom Typ «Taurus».

Deutschland und USA bremsen

Scholz stellte sich mit seiner Positionierung abermals auf die Seite
der USA, die aus Sorge vor einer weiteren Eskalation des
Ukraine-Kriegs ebenfalls zentrale Wünsche Selenskyjs derzeit nicht
erfüllen wollen. Auf der anderen Seite stehen vor allem nordische und
osteuropäische EU- und Nato-Staaten. Sie argumentieren, dass im
Umgang mit Russland nur größtmöglicher Druck zielführend sei.

In nicht öffentlichen Diskussionen wird zudem darauf verwiesen, dass
die Einladung zur Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine auch eine Art
Trumpfkarte in späteren Verhandlungen mit Russland sein könnte. So
könnte die Regierung in Kiew Moskau zum Beispiel anbieten, auf die
Nato-Mitgliedschaft zu verzichten, wenn sich Russland aus
ukrainischem Gebieten zurückzieht. Eines der erklärten Kriegsziele
Russlands ist es nämlich, einen neutralen Status der Ukraine zu
erzwingen.

Selenskyj spricht von Atomwaffen-Option

Selenskyj wollte davon allerdings auf einer Pressekonferenz nichts
wissen und drohte sogar indirekt mit einer Wiederbewaffnung seines
Landes mit Atomwaffen, sollte es nicht Mitglied der Nato werden
können. «Welchen Ausweg haben wir? Entweder wird die Ukraine
Atomwaffen haben oder wir müssen in irgendeiner Allianz sein», sagte
er und ergänzte er, dass er außer der Nato keine funktionierenden
Allianzen kenne.

Für die Nato wäre eine nukleare Wiederbewaffnung der Ukraine ein
großer Rückschlag, weil sie sich eigentlich dafür einsetzt, dass sich

die Zahl der Atommächte nicht weiter erhöht. In der Ukraine gibt es
seit den 90er Jahren keine Nuklearwaffen mehr. Nach dem Zusammenbruch
der Sowjetunion hatte sich das Land über das sogenannte Budapester
Memorandum verpflichtet, die auf seinem Staatsgebiet gelagerten
sowjetischen Atomwaffen an Russland zu übergeben. Im Gegenzug
bekräftigten die Atomwaffenstaaten Russland, USA und Großbritannien,
dass sie die Unabhängigkeit und die Grenzen der Ukraine achten und
das Land nicht mit Atomwaffen bedrohen werden.

Russland bekommt Unterstützung von Orban

Aus Russland hieß es bereits am Mittwoch zu Selenskyjs Plan, dieser
erkläre in keinem seiner Punkte, wie er den Konflikt lösen wolle,
sondern versuche, die westlichen Verbündeten noch tiefer in den Krieg
hineinzuziehen. Indirekte Unterstützung bekam Moskau bei EU-Gipfel
vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban, der den
ukrainischen Plan als angsteinflößend bezeichnete und forderte, man
brauche eine Friedens- und keine Kriegsstrategie.

Der litauische Präsident Gitanas Nauseda entgegnete: «Unser Zögern
ist der direkteste Weg zur Eskalation.» Dies sei der schlechteste
Moment, um mit Verhandlungen zu beginnen, da Russland sich derzeit
als die stärkere Partei fühle.

Selenskyj warb nach seinem Besuch beim EU-Gipfel am Abend auch noch
bei einem Verteidigungsministertreffen der Nato für seinen Siegesplan
und entschlossene Entscheidungen für eine Bündnismitgliedschaft
seines Landes. «Die Ukraine in die Nato einzuladen, wird uns
diplomatisch stärken und uns einem echten und (...) gerechten Frieden
näherbringen», sagte er bei einer Pressekonferenz mit
Nato-Generalsekretär Mark Rutte. Zudem hätten die Ukrainer gezeigt,
dass sie die gemeinsamen Werte verteidigen könnten und die
Mitgliedschaft verdient.