Richtungsweisende Wahl in Georgien: Wohin strebt das Land?
26.10.2024 04:00
Georgien im Südkaukasus wählt ein neues Parlament. Davon hängt ab, ob
der Staat sich künftig gen Westen oder an Russland orientiert. Das
Land mit dem Status eines EU-Beitrittskandidaten ist gespalten.
Tiflis (dpa) - In der Schwarzmeer-Republik Georgien wählen die
Menschen an diesem Samstag ein neues Parlament. Die Abstimmung gilt
als richtungsweisend für die Zukunft des Landes. Möglich ist eine
Annäherung an die EU oder mehr Zusammenarbeit mit Russland. Rund 3,5
Millionen Menschen sind zur Wahl aufgerufen. Die Südkaukasusrepublik
ist EU-Beitrittskandidat, wegen umstrittener Gesetze liegt der
Prozess derzeit aber auf Eis.
Die prowestliche Opposition hat sich in vier Wahlbündnissen
zusammengetan, bleibt aber zerstritten. Einig sind sie sich nur
darüber, dass das Land einen europäischen Kurs einschlagen soll. Die
seit 2012 regierende Partei Georgischer Traum will an der Macht
bleiben. Umfragen in dem traditionell polarisierten Land erbrachten
teils widersprüchliche Ergebnisse und sind nach Meinung von
Fachleuten unzuverlässig. Deshalb haben vor allem auch
Nichtregierungsorganisationen viele Beobachter im Einsatz, um die
Abstimmung zu kontrollieren. Wahlrechtsexperten haben schon einen
Missbrauch staatlicher Ressourcen durch die Regierungspartei beklagt.
Die proeuropäische Präsidentin Salome Surabischwili hat eine
Reformagenda, die Georgische Charta, initiiert. Große Teile der
Opposition haben sie unterzeichnet. Demnach soll die Opposition bei
einem Wahlsieg eine «technische Regierung» bilden, die Reformen
umsetzt und das Land wieder auf einen europäischen Kurs bringt. In
einem Jahr soll es dann vorgezogene Neuwahlen geben. Weil die
Opposition zerstritten ist, gibt es Zweifel im Land, ob dieser Plan
gelingt.
Regierungspartei schürt Kriegsängste bei Sieg der Opposition
Der vom Milliardär Bidsina Iwanischwili gegründete Georgische Traum
verspricht Wählern Stabilität und Frieden. Die Partei steht für einen
nationalkonservativen Kurs und eine wirtschaftliche Zusammenarbeit
mit Russland. Iwanischwili hat sein Geld dort im Banken- und
Rohstoffsektor gemacht und besaß auch lange einen russischen Pass.
Seine Partei schürt Ängste vor einem Krieg mit dem großen Nachbarn im
Norden, sollte die Opposition gewinnen.
Iwanischwili macht die Partei des inhaftierten Ex-Präsidenten Michail
Saakaschwili, Vereinte Nationale Bewegung, für den Krieg mit Russland
2008 verantwortlich. Moskau erkannte danach die abtrünnigen
georgischen Gebiete Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten
an. So verlor Georgien 20 Prozent seines Staatsgebiets. Die Vereinte
Nationale Bewegung regierte bis 2012 und ist nun die größte
Oppositionspartei. Iwanischwili kündigte mehrfach an, sie verbieten
zu wollen, sollte der Georgische Traum bei der Wahl eine
Zweidrittelmehrheit im Parlament erlangen.
Die EU wirft der georgischen Regierung einen antieuropäischen Kurs
vor. Das Land am Schwarzen Meer ist zwar seit Ende 2023
EU-Beitrittskandidat, der Prozess liegt wegen der Verabschiedung
umstrittener Gesetze aber auf Eis. Die Regierung hatte ein Gesetz
nach russischem Muster durchgesetzt, das den angeblichen
ausländischen Einfluss auf die Zivilgesellschaft beschneiden soll.
Auch die Rechte sexueller Minderheiten hat sie eingeschränkt.
Kundgebungen vor der Wahl
Das Land ist gespalten. Knapp eine Woche vor der Wahl demonstrierten
Zehntausende in der Hauptstadt Tiflis (Tbilissi) für eine Annäherung
an die EU. Wenige Tage später waren ebenfalls Zehntausende bei einer
Kundgebung der Regierungspartei in Tiflis. Die Partei hatte dabei
Busse organisiert, mit denen viele Menschen aus teils weit entfernten
Regionen Georgiens in die Hauptstadt gefahren wurden.
Elektronische Auszählung
Neu sind bei dieser Parlamentswahl elektronische Geräte in den
Wahllokalen. Sie werden zur Identifizierung der Wahlberechtigten, zur
Auszählung der Stimmen und zur Feststellung und Übermittlung der
vorläufigen Wahlergebnisse eingesetzt. Die Wahlkommission erklärte
mehrfach, dass die Geräte nicht mit dem Internet verbunden seien und
das Wahlgeheimnis gewahrt werde.
Georgien hat rund 3,7 Millionen Einwohner, mit den im Ausland
lebenden Bürgern sind 3,5 Millionen Menschen wahlberechtigt. Die
Wahllokale sind von 8.00 bis 20.00 Uhr geöffnet (6.00 bis 18.00 Uhr
MESZ). Aussagekräftige Ergebnisse werden am späten Samstagabend
erwartet. Nach der Abstimmung will auch die Organisation für
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die mit 500
Wahlbeobachtern im Einsatz ist, den Urnengang nach demokratischen
Gesichtspunkten beurteilen.