Wahlbetrug? Proteste in Georgien - Zurückhaltung im Westen Von Katharina Schröder, Friedemann Kohler und Ulf Mauder, dpa
28.10.2024 19:44
Bei der Parlamentswahl in Georgien gibt es massive Verstöße. Aber
wiegen sie so schwer, dass die gesamte Wahl als ungültig einzustufen
ist? In Tiflis gibt es friedliche Massenproteste.
Tiflis (dpa) - Zehntausende Anhänger der proeuropäischen Opposition
haben nach der umstrittenen Parlamentswahl in der georgischen
Hauptstadt Tiflis gegen den Sieg der Regierungspartei Georgischer
Traum protestiert. Vor dem Parlament schwenkten viele Menschen die
europäische und die georgische Fahne. Die prowestliche Präsidentin
Salome Surabischwili sagte bei der Kundgebung: «Eure Stimme wurde
gestohlen, und sie haben versucht, Eure Zukunft zu stehlen». Sie
unterstützte die Forderung nach einer Wahlwiederholung unter
internationaler Aufsicht.
Die Opposition und Surabischwili sprechen von Wahlfälschung in der
kleinen Südkaukasusrepublik, georgische und internationale
Wahlbeobachter sprachen überwiegend von Verstößen und
Unregelmäßigkeiten. Auch erste westliche Reaktionen gehen nicht so
weit, die Abstimmung insgesamt infrage zu stellen.
US-Außenminister Antony Blinken rief die Politiker in Georgien auf,
«Mängel am Wahlprozess» zu beseitigen. Sie sollten
Rechtsstaatlichkeit akzeptieren und Gesetze zurücknehmen, die
grundlegende Freiheiten einschränkten, schrieb Blinken auf der
Plattform X.
Parlamentschef wirft Präsidentin Spaltungsversuch vor
Der georgische Parlamentschef Schalwa Papuaschwili warf der
Präsidentin vor, sie versuche, mit ihren Wahlfälschungsvorwürfen das
Land zu spalten. Surabischwili versuche, mit den Gefühlen der
Menschen zu spielen und verbreite Desinformation, sagte er der
Nachrichtenagentur Interpressnews zufolge.
Der Parlamentschef meinte, dass der Georgische Traum auch ohne die
Opposition ein legitimes Parlament bilden könne - mit 89 der
insgesamt 150 Mandate. Die Oppositionsparteien haben erklärt, ihre
Mandate nicht anzunehmen. In der Ex-Sowjetrepublik, die
EU-Beitrittskandidat ist, steht mit dieser Wahl auch die weitere
Annäherung an die EU auf dem Spiel.
Regierungschef bekräftigt EU-Kurs
Ministerpräsident Irakli Kobachidse versuchte Befürchtungen zu
entkräften, es gebe eine Abkehr vom EU-Kurs. Georgien wolle sich bis
2030 voll in die Europäische Union integrieren, sagte er bei einer
Regierungssitzung. Er rechne für das kommende Jahr mit einem
Neubeginn im derzeit schwierigen Verhältnis zur EU.
Ungeachtet vieler Belege für Unregelmäßigkeiten erklärte die
Wahlleitung die nationalkonservative Partei Georgischer Traum zur
Siegerin mit knapp 54 Prozent der Stimmen. Starker Mann der Partei
ist der Milliardär Bidsina Iwanischwili, der sein Vermögen in
Russland gemacht hat. Den proeuropäischen Oppositionsbündnissen
wurden nur jeweils elf Prozent und weniger zugeschrieben.
Ungarns Regierungschef Orban besucht Georgien
Inmitten des Streits über das Ergebnis der Parlamentswahl kam der
ungarische Ministerpräsident Viktor Orban zu einem Besuch nach
Tiflis. Orban steht der Regierungspartei Georgischer Traum
ideologisch nahe. Er hatte der Partei am Wahlsamstag bereits
gratuliert, noch bevor belastbare Ergebnisse vorlagen. Die
Regierungspartei pflegt wie Orban wirtschaftliche Beziehungen zu
Russland.
Orban solle am Dienstag offiziell von Kobachidse empfangen werden,
teilte die Regierung in Tiflis mit. Ungarn führt derzeit turnusgemäß
den EU-Ratsvorsitz. Die meisten EU-Staaten sehen allerdings Orbans
Alleingänge kritisch, bei denen er seine moskaufreundliche Position
vertritt. Der deutsche Botschafter in Tiflis, Peter Fischer, schrieb
bei X, Orban spreche in Georgien für Ungarn, nicht für die EU.
Präsidentin sieht russische Handschrift bei Wahl
Für eine Wiederholung der Abstimmung sei die Unterstützung des
westlichen Auslands notwendig, forderte Präsidentin Surabischwili.
Sie vermutet hinter den Manipulationen russische Einflussnahme. Der
Betrug sei sehr gut und weit im Voraus geplant, sehr ausgeklügelt und
allumfassend gewesen, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur in
Tiflis. «So etwas haben wir in diesem Land noch nicht erlebt.»
Es sei eine gut durchdachte Operation gewesen, nicht nur einfache
Wahlfälschung. «Es war für jeden Ort, jede Region angepasst. Was
macht man in ländlichen Gegenden? Was macht man in den Städten? Wie
begrenzt man den Einfluss der Diaspora?», sagte sie.
Russland dementiert Einmischung in Georgien
Der Kreml dementierte eine Einmischung Russlands in die Wahl. Im
Gegenteil hätten die europäischen Staaten Druck auf das Land an der
russischen Südgrenze ausgeübt, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow.
«Viele Kräfte aus europäischen Staaten und europäischen Institution
en
haben versucht, Einfluss auf das Ergebnis der Abstimmung zu nehmen»,
sagte er russischen Nachrichtenagenturen zufolge.
EU fordert Aufklärung von Unregelmäßigkeiten
Georgische und internationale Beobachter hatten bei der Wahl am
Samstag zahlreiche Unregelmäßigkeiten verzeichnet. Genannt wurden
Stimmenkauf und Druck auf Wähler und Wählerinnen, gehäuftes Einwerfen
von Stimmzetteln in die Wahlurnen und der Missbrauch staatlicher
Einflussmöglichkeiten zugunsten der Regierung. Andererseits hieß es,
bei 18 Parteien auf dem Stimmzettel habe es eine breite Auswahl
gegeben. Die Abstimmung sei gut organisiert gewesen.
Wie US-Minister Blinken forderte auch EU-Ratspräsident Charles Michel
von der georgischen Führung eine Aufklärung der Unregelmäßigkeiten.
Georgien brauche nun einen konstruktiven Dialog quer durch das
politische Spektrum, schrieb er auf X. Er werde die künftigen
Beziehungen zu Georgien auch auf die Tagesordnung des nächsten
Europäischen Rates im November in Budapest setzen. «Wir wiederholen
den Aufruf der EU an die Führung Georgiens, ihr Festhalten am EU-Kurs
des Landes zu demonstrieren.»
Ähnlich äußerten sich der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell und die
EU-Kommission in einer Mitteilung. Brüssel hat den Gesprächsprozess
mit Georgien auf Eis gelegt wegen mehrerer repressiver Gesetze, die
der Georgische Traum durchgesetzt hat.