Wird Scholz jetzt zur «lahmen Ente» Europas? Von Michael Fischer und Ansgar Haase, dpa
08.11.2024 16:14
Nur 24 Stunden nach dem Ampel-Crash lässt sich Kanzler Scholz wieder
auf der europäischen Bühne blicken. Gilt er dort jetzt als Kanzler
auf Abruf?
Budapest (dpa) - Bundeskanzler Olaf Scholz macht erst einmal weiter,
als wenn nichts gewesen wäre. Als er am Freitagmorgen hoch über der
Donau auf der Dachterrasse seines Hotels vor der Kulisse der Budaer
Burg vor die Kameras tritt, sieht er zwar noch etwas mitgenommen vom
Ampel-Crash in Berlin aus. Aber das Programm des EU-Gipfels spult er
routiniert wie immer ab.
Es gehe um den Wahlsieg Trumps, Europa müsse jetzt enger
zusammenrücken, seine Wettbewerbsfähigkeit stärken, sagte Scholz.
Zwei Minuten und 40 Sekunden, keine Fragen, dann geht's ins
Puskas-Stadion zu den Beratungen mit den anderen 27 Staats- und
Regierungschefs der EU.
Scholz ist wegen der Regierungs-Turbulenzen mit Verspätung in der
ungarischen Hauptstadt Budapest eingetroffen. Den vorgeschalteten
Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft mit dem ukrainischen
Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hat er wegen der Turbulenzen in
Berlin geschwänzt. Am Donnerstag musste er ja noch die notdürftigen
Reparaturen an seiner geplatzten Regierung finalisieren und kam erst
zum Abendessen, wo die labile Situation in Deutschlands zumindest am
Rande Thema war.
Scholz habe geschwächt gewirkt, sagt ein Diplomat, der dabei war. Das
internationale Medienecho auf den Ampel-Crash war angesichts der
fragilen weltpolitischen Lage von Beunruhigung geprägt. Ausgerechnet
an dem Tag, an dem in den USA Donald Trump zum Präsidenten gewählt
wird, zerlegt sich die Regierung der größten europäischen
Volkswirtschaft selbst, so der Tenor. «Gestern Abend ist Deutschland
politisch zur lame duck, zur lahmen Ente, geworden, mit einer
Regierung, die wahrscheinlich nicht regierungsfähig ist und deren
Schicksal besiegelt scheint», schrieb etwa die italienische «La
Stampa» nach dem denkwürdigen Mittwochabend, an dem die
Regierungskoalition zerbrach.
Außenpolitisches Tagesgeschäft läuft normal weiter
Aber sind die Auswirkungen auf die Rolle und das Ansehen in der Welt
wirklich so dramatisch? Scholz regiert mit einer rot-grünen
Minderheitsregierung weiter und kann ohne die Opposition keine
Gesetze mehr beschließen. Für das außenpolitische Tagesgeschäft
braucht Scholz aber keine Mehrheit im Parlament. Seine Regierung kann
etwa Migrationsabkommen mit anderen Ländern beschließen,
Waffenlieferungen an Israel genehmigen oder die Stationierung von
US-Mittelstreckenraketen in Deutschland in die Wege leiten, ohne den
Bundestag zu fragen.
Wenn es ums Geld geht, ist ohne das Parlament allerdings nichts
möglich - also wenn es zum Beispiel um zusätzliche Milliarden für die
Ukraine geht. Dafür wollte Scholz in den Ampel-Verhandlungen zuletzt
erneut die Schuldenbremse aussetzen. Am Ende zerbrach die Koalition.
EU-Partner dringen auf Tempo bei Neuwahlen
Bei der EU in Brüssel und in etlichen Hauptstädten anderer
Mitgliedstaaten hält sich das Bedauern über das Ampel-Aus in Grenzen.
In den vergangenen drei Jahren war man dort oft frustriert darüber,
dass sich Deutschland zu wichtigen Themen erst nach langen internen
Diskussionen zwischen den Regierungsparteien SPD, FDP und Grünen
positionieren konnte - oder am Ende überhaupt nicht.
Das machte schnelle Fortschritte bei EU-Projekten schwer, wie zum
Beispiel bei der großen Asylreform, dem Lieferkettenkettengesetz oder
strengeren Klimaschutz-Auflagen für die Autoindustrie. «German Vote»
heißt es in Brüssel etwas abfällig, wenn sich Deutschland wegen
Streitigkeiten in der Koalition bei Abstimmung enthält.
Dementsprechend offen wird nun von konservativen europäischen
Spitzenpolitikern Druck auf Scholz gemacht, eine lange Hängepartie zu
vermeiden. «Ich rufe zu politischer Stabilität auf und appelliere an
alle Akteure, verantwortungsvoll zu handeln», sagte
EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola in Budapest. «Europa ist
nicht stark ohne ein starkes Deutschland. Das ist wichtig für uns.»
Staats- und Regierungschefs äußerten sich ähnlich. «Ich hoffe (...)
auf eine deutsche Lösung, so schnell wie möglich», sagte Schwedens
Regierungschef Ulf Kristersson. Innenpolitische Turbulenzen seien in
jedem Land problematisch.
Scholz gilt nicht als Brückenbauer - Von der Leyen kann auf Merz
hoffen
Im Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs der
EU-Staaten, wird Scholz schon seit längerem nicht nur von
konservativen Politikern kritisch gesehen. Im Gegensatz zu seiner
Vorgängerin Angela Merkel von der CDU galt Scholz bei schwierigen
Themen nicht als der große Brückenbauer.
Die Kanzlerin hatte sich nach Angaben von Diplomaten oft sehr viel
Zeit genommen, um auch kleinere Mitgliedstaaten bei gemeinsam mit
Frankreich angestoßen Entscheidungsprozessen mitzunehmen. Scholz war
dafür nicht bekannt, eher dafür, teilweise eher undiplomatisch und
direkt seine Position vorzutragen.
Auch das Verhältnis des Kanzlers zu Frankreichs Präsident Emmanuel
Macron wird von Gipfelteilnehmern regelmäßig als schwierig und wenig
konstruktiv beschrieben. Von einem starken «deutsch-französischen
Motor» für europäische Projekte könne keine Rede sein, heißt es i
n
Brüssel - auch wenn Scholz und Macron gerne das Gegenteil
behaupteten.
Das Ampel-Aus weckt in Brüssel nun die Hoffnung, dass große
EU-Projekte wie eine weitere Verschärfung des Asylsystems und die
Aufstellung des nächsten langfristigen Gemeinschaftshaushalts
deutlich früher angepackt werden können als gedacht.
Wegen der Streitigkeiten in der deutschen Regierung galt es als sehr
wahrscheinlich, dass die zuständige EU-Kommission konkrete Vorschläge
erst nach der nächsten Bundestagswahl macht - also nach
ursprünglicher Erwartung erst im Spätherbst oder Winter des kommenden
Jahres.
Im Fall von Neuwahlen könnten Schlüsselprojekte nun schon im
Frühsommer angegangen werden. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von
der Leyen kann zudem darauf hoffen, dass mit Friedrich Merz ein
Parteifreund neuer Kanzler in Deutschland wird.
Vertrauensfrage fünf Tage vor Trump
Nach dem Scholz-Plan wird das aber noch eine Weile dauern. Er will
die Vertrauensfrage nach jetzigem Stand erst am 15. Januar stellen -
fünf Tage bevor Trump ins Weiße Haus zurückkehrt. Was dann passiert,
weiß noch niemand. Aussetzung der Ukraine-Hilfe? Friedensgespräche
mit Putin? Handelskrieg mit der EU? Wie verhält er sich gegenüber
China?
Europa wird darauf reagieren müssen und mit Deutschland wäre das
größte und bevölkerungsreichste Land mit einer Regierung ohne
Rückhalt des Parlaments politisch nur noch bedingt handlungsfähig.
Scholz würde dann tatsächlich als «lame duck» gelten und das Land
hätte die heiße Wahlkampfphase vor sich.
Der wahrscheinlichste Wahltermin wäre der 30. März. Sollte Scholz die
Wahl verlieren, könnte er nach Konstituierung des neuen Bundestags
als dann nur noch geschäftsführender Kanzler wichtige Entscheidungen
ohne Absprachen mit seinem Nachfolger gar nicht mehr treffen. So ist
es jedenfalls üblich. Die Koalitionsverhandlungen könnten ein bis
zwei Monate dauern oder auch noch länger. Dann landet man ganz
schnell im Mai oder Juni.
Die Opposition macht deswegen Druck, den Termin vorzuziehen. Sie
strebt den 19. Januar an, den Tag vor der Trump-Vereidigung. Am Ende
des EU-Gipfels zeigte Scholz sich überraschend verhandlungsbereit.
Gemeinsam mit einer Einigung im Bundestag darüber, welche Gesetze
noch beschlossen werden sollen, könne man auch über den Termin für
die Neuwahl sprechen. «Für mich ist das so, dass wir hier ein großes
demokratisches Fest haben, und das gelingt am besten, wenn alle
gemeinsam zur Party schreiten», sagte er.