Einst Wachstumsmotor: Brüssel senkt Prognose für Deutschland Von Katharina Redanz, dpa
15.11.2024 13:59
Europas einstiger Antreiber Deutschland schwächelt weiterhin,
geopolitische Herausforderungen machen dem Kontinent zunehmend zu
schaffen. Wie geht es weiter mit der europäischen Wirtschaft?
Brüssel (dpa) - Deutschlands Wirtschaft wird dieses Jahr auch nach
einer Prognose der EU-Kommission leicht schrumpfen. In einer in
Brüssel vorgelegten Schätzung prognostiziert die Behörde der größ
ten
Volkswirtschaft der EU einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP)
im laufenden Jahr um 0,1 Prozent. Europaweit rechnet die Kommission
mit einem etwas langsameren Wachstum als zuletzt: Für 2024 gehen die
Experten von einem Wachstum der Wirtschaft der Staatengemeinschaft
von 0,9 Prozent aus - nach einen im Mai erwarteten Plus von 1,0
Prozent. Für die Eurozone prognostiziert die Behörde weiterhin ein
Plus von 0,8 Prozent.
«Nach der Stagnation, die wir im Jahr 2023 hatten, wächst die
europäische Wirtschaft wieder», sagte EU-Wirtschaftskommissar Paolo
Gentiloni bei der Vorstellung der Herbst-Prognose. Allerdings bleibe
das Wachstum bescheiden und sei erheblichen Abwärtsrisiken
ausgesetzt. «Die Aussichten sind nach wie vor höchst unsicher», so
Gentiloni weiter. Er verwies etwa auf den anhaltenden Angriffskrieg
Russlands gegen die Ukraine, den Konflikt im Nahen Osten als auch auf
zunehmende Umweltrisiken, wie die jüngsten Überflutungen in Spanien
zeigten.
Schwächelnder Wachstumsmotor
Lange war Deutschland in Europa der Wachstumsmotor - das gilt aber
nicht mehr. Es wäre nun das zweite Jahr infolge, in dem die deutsche
Wirtschaft schrumpft, nach einem Minus von 0,3 Prozent im vergangenen
Jahr. Als Gründe für den Rückgang werden etwa eine schwache Nachfrage
nach Industrieerzeugnissen, hohe Unsicherheit, Arbeitskräftemangel
sowie wegen schlechter Konsumlaune eine hohe Sparquote der
Verbraucher genannt. Bei ihrer vorherigen Prognose im Mai war die
EU-Kommission für 2024 noch von einem minimalen Wachstum von 0,1
Prozent in Deutschland ausgegangen.
Im europäischen Vergleich wird sonst nur Estland (-1 Prozent), Irland
(-0,5 Prozent), Österreich (-0,6 Prozent) und Finnland (-0,3 Prozent)
ein Schrumpfen des BIP in diesem Jahr prognostiziert. Bei anderen
großen Volkswirtschaften wie Frankreich (1,1 Prozent) oder Spanien (3
Prozent) rechnet Brüssel mit einem Plus.
Auch der deutsche Sachverständigenrat zur Begutachtung der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung senkte jüngst seine Schätzung und
prognostiziert für dieses Jahr ein Schrumpfen der deutschen
Wirtschaft um 0,1 Prozent. Für das kommende Jahr erwartet er nur ein
Mini-Plus des Bruttoinlandsprodukts von 0,4 Prozent, die
EU-Kommission geht von einem Plus von 0,7 Prozent aus.
Wachsende Unsicherheit nach Ampel-Aus?
Die Bundesregierung hatte im Oktober ihre Konjunkturprognose gesenkt
und rechnet für 2024 mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um
0,2 Prozent. Ein Grund ist Unsicherheit bei Unternehmen und Bürgern,
die sich mit Investitionen zurückhalten. Diese könnte nun nach dem
Scheitern der Ampel weiter steigen. Für das kommende Jahr erwartet
Berlin ein Wachstum von 1,1 Prozent. Dabei setzt die Bundesregierung
aber auch auf eine geplante Wachstumsinitiative mit unter anderem
Steuererleichterungen. Ob dies zumindest in Teilen noch bis
Jahresende umgesetzt wird, ist nach dem Regierungsbruch völlig
offen.
Weiterhin kommt die schwache Konjunktur in Deutschland zunehmend auf
dem Arbeitsmarkt an. Die Zahl der Unternehmen geht zurück und der
Pessimismus bei den Firmen nimmt zu, wie aus Daten des Statistischen
Bundesamts hervorgeht.
Kommission rechnet im nächsten Jahr mit Plus
Für das kommende Jahr wird in Brüssel trotzdem mit einem Plus der
Wirtschaft der Staatengemeinschaft von 1,5 Prozent gerechnet, sowie
mit plus 1,3 Prozent in der Eurozone. Für 2026 schraubt die
Kommission die Prognose noch etwas weiter hoch und erwartet ein Plus
von 1,8 Prozent in der EU und 1,6 Prozent in der Eurozone. Für
Deutschland rechnet die EU-Kommission derzeit für 2026 mit einem
Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in Höhe von 1,3 Prozent.
Die jährliche Inflation in der Eurozone wird sich der
Kommissionsschätzung zufolge von 5,4 Prozent 2023 in diesem Jahr auf
2,4 Prozent mehr als halbieren. In den Jahren 2025 (2,1 Prozent) und
2026 (1,9 Prozent) soll sie sich nach Erwartung der Experten weiter
abschwächen.
Geopolitische Herausforderungen für Europa wachsen
Die Beziehungen zum wichtigen Handelspartner USA unter dem künftigen
Präsidenten Donald Trump stellen eine weitere Herausforderung für die
EU dar. Noch vergangene Woche hatten die EU-Staats- und
Regierungschefs es als oberste Priorität bezeichnet, einen
Wirtschaftskrieg mit den Vereinigten Staaten zu vermeiden. Trump
hatte im Wahlkampf angekündigt, auf Importe neue Zölle in Höhe von 10
bis 20 Prozent einführen zu wollen, um den Produktionsstandort USA zu
stärken. «Die Kommission wird mit der neuen US-Regierung
zusammenarbeiten, um eine starke transatlantische Agenda
voranzutreiben und sicherzustellen, dass die internationalen
Handelskanäle offen bleiben und gleichzeitig sicherer werden», sagte
Gentiloni nun.
Auch mit China befindet sich die EU in einem belastenden
Handelsstreit. Seit Ende Oktober etwa gelten Zusatzzölle für aus
China importierte Elektroautos. Sie sind aus Sicht der Kommission
notwendig, um langfristig die Zukunft der Autoindustrie in der EU zu
sichern. Die Regierung in Peking wirft der EU Protektionismus vor und
drohte in der Vergangenheit unter anderem mit höheren Zöllen bei der
Einfuhr von Verbrennern mit großem Hubraum aus der EU in die
Volksrepublik. Davon wären besonders deutsche Autobauer betroffen.