Selenskyj lässt Raum für zeitweise Gebietsabtretungen

20.11.2024 06:11

Nach 1.000 Tagen Krieg in der Ukraine ist kein Ende in Sicht. Die
Forderungen beider Seiten liegen weit auseinander - doch der
ukrainische Präsident Selenskyj lässt mit einer Äußerung aufhorchen
.

Kiew (dpa) - Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Raum
für eine zeitweilige russische Kontrolle über ukrainische Gebiete
gelassen. «Vielleicht muss die Ukraine jemanden in Moskau überleben,
um ihre Ziele zu erreichen und das gesamte Staatsgebiet wieder
herzustellen», sagte Selenskyj mit Blick auf den russischen
Präsidenten Wladimir Putin (72) im Parlament. Dort stellte er einen
Plan vor, wie sein Land dem russischen Druck besser standhalten kann.

In internationalen Medien wird seit längerer Zeit darüber spekuliert,
dass der Krieg in der Ukraine entlang der Frontlinie eingefroren
werden könnte, ohne dass Kiew juristisch Gebiete an Russland abtritt.
Dennoch lehnte Selenskyj formaljuristische Gebietsabtretungen
kategorisch ab. «Wir verzichten nicht auf die Rechte der Ukraine auf
ihr Territorium», unterstrich der Staatschef.

Später räumte er in einem Interview des US-Senders Fox News ein, dass
die Ukraine den Krieg verlieren könne, wenn die bisherige massive
Unterstützung der USA beim Amtsantritt von Donald Trump im Weißen
Haus versiege. «Wenn sie (die Hilfe) beenden, glaube ich, werden wir
verlieren», sagte Selenskyj. Aber dennoch werde die Ukraine den Kampf
fortsetzen. Die Ukraine habe zwar ihre eigene Rüstungsindustrie, doch
genüge deren Produktion nicht. «Es wird nicht genug sein, um zu
überleben.» 

Die Ukraine befürchtet, dass Trump - wie im Wahlkampf angekündigt -
die bisherige militärische Unterstützung der USA zurückfahren oder
ganz einstellen könnte. Dennoch hoffe er, dass Trump den russischen
Präsidenten Wladimir Putin zu einer Beendigung des Kriegs bewegen
könnte. «Es wird nicht einfach sein, aber mit allem, was den USA zur
Verfügung steht, kann er das», sagte Selenskyj. «Er ist stärker, di
e
USA sind stärker, die Wirtschaft ist stärker, und die USA haben
großen Einfluss», begründete er seine Überzeugung. 

Lage an der Front bleibt kompliziert

Dabei ist das ukrainische Militär an der Front nach wie vor in der
Defensive. Der Generalstab in Kiew vermeldete in seinem abendlichen
Lagebericht 130 Zusammenstöße im Tagesverlauf. Die meisten Angriffe
lancierten die russischen Truppen dabei an der Front im Südosten des
Landes. So attackierten sie Pokrowsk 37 Mal und Kurachowe 22 Mal. An
der Grenze zwischen den Gebieten Donezk und Saporischschja gab es
zudem 15 Angriffe.

In diesem Abschnitt ist die Front seit Jahresbeginn am stärksten in
Bewegung geraten. Etwa 40 Kilometer konnten die Russen seit der
Eroberung der ukrainischen Festung Awdijiwka bei Donezk vorrücken.
Eine der Ursachen für die Probleme der Ukrainer an der Front waren
die lange Zeit stagnierenden Waffen- und Munitionslieferungen aus dem
Westen.

Berichte: Washington will Schützenminen liefern

Nach der Freigabe an Kiew zum Einsatz von weitreichenden Waffen gegen
Ziele in Russland ordnete US-Präsident Joe Biden nach einem
Medienbericht nun auch die Lieferung von Schützenminen an die Ukraine
an. Biden sei damit von seiner bisherigen Position abgerückt, um der
Ukraine im Abwehrkampf gegen die russische Armee zu helfen,
berichtete die «Washington Post» unter Berufung auf ranghohe
Vertreter der US-Regierung. Grund für die Meinungsänderung im Weißen

Haus sei das stetige Vorrücken russischer Truppen im Donbass. Die
Lieferung dieser Minen sei nach Meinung des Pentagon ein wirksames
Mittel, um das Vordingen der russischen Einheiten zu verlangsamen.

Der Einsatz dieser Schützenminen, auch als Antipersonenminen bekannt,
werde jedoch auf den Osten der Ukraine beschränkt. Das russische
Militär hat am Rande der besetzten Gebiete in der Ukraine dichte
Minenfelder ausgelegt und damit eine ukrainische Offensive zum
Scheitern gebracht. 

Der Einsatz von Minen ist international geächtet. Die 1999 in Kraft
getretene sogenannte Ottawa-Konvention von 1999 verbietet Einsatz,
Produktion und Weitergabe dieser heimtückischen Waffen, die auch
lange Zeit nach Kampfhandlungen ihre Opfer vor allem unter der
Zivilbevölkerung in den jeweiligen Regionen finden. Die Konvention
wurde von 164 Staaten unterzeichnet und ratifiziert, nicht jedoch von
Russland und den USA. Die Ukraine hat das Papier 2005 ratifiziert.

Borrell: Eine Million Artilleriegeschosse an Kiew geliefert

Nach Angaben des Europäischen Auswärtigen Dienstes hat die EU nun
immerhin ihren Plan zur Lieferung von Artilleriegeschossen an die
Ukraine erfüllt - wenn auch mit Verspätung. «Wir haben das Ziel von
einer Million Schuss Artilleriemunition erreicht», sagte
EU-Chefdiplomat Josep Borrell nach einem Treffen der
EU-Verteidigungsminister in Brüssel. Die Munition sei an die Ukraine
geliefert worden, «einige Monate später als erwartet». Ursprünglich

hatte die EU die Marke von einer Million Schuss bereits bis Ende März
erreichen wollen.

Tatsächlich konnte bis März nur etwas mehr als die Hälfte der Menge
geliefert werden. Als neues Ziel hatte die EU dann Ende 2024 in
Aussicht gestellt. «Wir werden damit fortfahren, denn Russland erhält
weiterhin umfangreiche Lieferungen von Munition und Raketen aus
Nordkorea und dem Iran», kündigte Borrell an. 

Der ukrainische Präsident Selenskyj stellte indes in Kiew einen Plan
zur Erhöhung der Widerstandsfähigkeit des von Russland angegriffenen
Landes vor. Die Ukraine werde massiv in die Rüstung investieren,
kündigte er an. Dazu zähle der Ausbau der eigenen
Munitionsproduktion. «Ukrainische Waffen» seien eine der
Hauptgarantien der ukrainischen Unabhängigkeit.

Ukraine und Russland attackieren sich mit Drohnen

Eine der wichtigsten Waffen in dem Krieg sind Drohnen. Beinahe
zeitgleich überzogen sich die Ukraine und Russland in der Nacht mit
Drohnenschwärmen. 

Bei einem massiven Drohnenangriff der Ukraine kam es zu Schäden in
mehreren russischen Regionen. «In der Stadt Alexejewka sind durch den
Absturz von Drohnentrümmern auf dem Territorium eines Unternehmens
Produktionshallen beschädigt worden», schrieb der Gouverneur der
russischen Grenzregion Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, bei Telegram.
Zudem seien ein Infrastrukturobjekt und eine Stromleitung getroffen
worden. Einen Einschlag gab es demnach auch in der benachbarten
Region Woronesch.

Drohnenangriffe wurden auch aus den Regionen Brjansk und Tula sowie
dem Moskauer Umland gemeldet. Nach Angaben des
Verteidigungsministeriums in Moskau wurden insgesamt 42 Kampfdrohnen
abgeschossen.

Das russische Militär startete erneut mehrere Drohnenschwärme, die
aus verschiedenen Himmelsrichtungen in die Ukraine einflogen. In
zahlreichen Regionen des Landes sowie in der Hauptstadt Kiew wurde
Luftalarm ausgelöst. Über eventuelle Einschläge der Kampfdrohnen
lagen zunächst keine Angaben vor.