Lagarde: Europa braucht dringend einheitlichen Kapitalmarkt

22.11.2024 14:00

Europa braucht viel Geld, um die Herausforderungen der nächsten Jahre
zu bewältigen. Doch einen gemeinsamen Kapitalmarkt gibt es nicht. Nun
setzen zunehmende Spannungen die Europäer unter Zugzwang.

Frankfurt/Main (dpa) - EZB-Präsidentin Christine Lagarde dringt
angesichts drohender Handelskonflikte auf Fortschritte beim
Zusammenwachsen der Finanz- und Kapitalmärkte in Europa. Die
Kapitalmarktunion sei «der Schlüssel, um in einer fragmentierten
Weltwirtschaft widerstandsfähiger zu werden», sagte die Präsidentin
der Europäischen Zentralbank (EZB) beim «Frankfurt European Banking
Congress».

«Die Kapitalmärkte sind das fehlende Bindeglied für die Europäer, u
m
ihre hohen Ersparnisse in größeren Wohlstand umzuwandeln - was sie
letztendlich in die Lage versetzen wird, mehr auszugeben und unsere
Binnennachfrage zu stärken», argumentierte Lagarde. Diese wachsende
Dringlichkeit gehe jedoch nicht einher mit greifbaren Fortschritten
auf dem Weg zur Kapitalmarktunion.

Bei der Kapitalmarktunion geht es im Kern darum, bürokratische Hürden
zwischen den einzelnen Staaten der Europäischen Union abzubauen. Dann
hätten zum Beispiel Unternehmen grenzübergreifend mehr Möglichkeiten,

sich Geld für Investitionen zu beschaffen. Seit 2015 liegen Pläne der
EU-Kommission auf dem Tisch.

Bundesbank-Präsident fordert Mentalitätswandel

Dass die Finanzmärkte in Europa bis heute zersplittert sind, liegt
nach Ansicht von Bundesbank-Präsident Joachim Nagel «nicht zuletzt an
der mangelnden Bereitschaft der Mitgliedstaaten, ihre nationalen
Interessen der gemeinsamen Sache unterzuordnen». Der
Bundesbank-Präsident mahnte: «Wir müssen diese Mentalität überwin
den
und die unsichtbaren Mauern einreißen, die die Integration der
Finanzmärkte behindern.» 

Nagel bekräftigte, der Ausgang der US-Wahlen habe den Handlungsbedarf
noch dringlicher gemacht. Der designierte US-Präsident Donald Trump
hat neue Zölle von 10 bis 20 Prozent auf Einfuhren aus Europa
angekündigt. Handelskonflikte mit den USA könnten die schwächelnde
Konjunktur zusätzlich unter Druck setzen.

Deutschland und Frankreich als Motor

In einem gemeinsamen Appell fordern Nagel und der Chef der
französischen Notenbank, François Villeroy de Galhau, dass
Deutschland und Frankreich wie in früheren Krisen wieder an einem
Strang ziehen. Die beiden Länder hätten trotz
Meinungsverschiedenheiten immer wieder Kompromisse gesucht und Europa
gemeinsam vorangebracht. 

«Wie wir uns mit einem klareren Blick für das Dringliche
weiterentwickeln müssen, lässt sich in drei Punkten zusammenfassen»,

schreiben Nagel und de Galhau in ihrem Beitrag, der in der
«Frankfurter Allgemeinen Zeitung» und in der französischen
Tageszeitung «Le Monde» veröffentlicht wurde: «Vertiefung unseres
Binnenmarktes, Schaffung einer Spar- und Investitionsunion und Abbau
der Bürokratie, um Innovationen zu fördern. Oder um es physiologisch
auszudrücken: Größe × Kraft × Geschwindigkeit.»

Kapital wandert ab

Ziel der EU ist auch, dass mehr Kleinanleger an den hiesigen
Finanzmärkten investieren, damit mehr Kapital für den grünen und
digitalen Wandel zur Verfügung steht. Europa müsse Sparerinnen und
Sparern Produkte anbieten, die zugänglich, transparent und
erschwinglich seien, meint EZB-Präsidentin Lagarde: «Meiner Meinung
nach ist ein "europäischer Sparstandard" - ein standardisiertes,
EU-weites Paket von Sparprodukten - der beste Weg, um diese Ziele zu
erreichen.»

Selbst wenn die Ersparnisse der Europäer die Kapitalmärkte
erreichten, breiteten sich diese nicht in der gesamten europäischen
Wirtschaft aus. «Das Kapital in Europa ist entweder innerhalb der
nationalen Grenzen gefangen oder wandert in die Vereinigten Staaten
ab», sagte Lagarde.

Bundesfinanzminister Jörg Kukies (SPD) bekräftigte, Europa brauche
«transparente, grenzüberschreitende Anlageprodukte, die den
Bedürfnissen der Verbraucher entsprechen». Es brauche einen flexiblen
europäischen Rahmen für Investmentprodukte, der mit den verschiedenen
nationalen Anlage- und Rentensystemen kompatibel sei. «Gemeinsam mit
unseren französischen Kollegen werden Experten des
Bundesfinanzministeriums das Konzept mit anderen Mitgliedstaaten und
der Finanzindustrie diskutieren», sagte Kukies.