Umbruch in Syrien im Fokus der EU-Außenminister
16.12.2024 03:58
Die Brüsseler Diplomatie berät über Hilfen für das vom Bürgerkrie
g
zerrissene Land. Rebellenchef al-Scharaa verspricht die Entwaffnung
aller Milizen. Israel hat die besetzten Golanhöhen im Blick.
Brüssel/Damaskus/Jerusalem/Gaza (dpa) - Acht Tage nach dem Sturz von
Machthaber Baschar al-Assad beschäftigt die Lage in Syrien die
Außenminister der EU-Staaten. Bei ihrem heutigen Treffen in Brüssel
wollen die Chefdiplomatinnen und -diplomaten darüber beraten, wie die
Europäische Union zu einer Stabilisierung des Landes beitragen kann.
Dabei geht es auch darum, eine Rückkehr der vielen in Europa lebenden
Flüchtlinge aus Syrien zu ermöglichen.
Die EU hatte nach eigenen Angaben bis zuletzt keinen Kontakt zur
islamistischen Gruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS). Diese stand an der
Spitze der Rebellenallianz, die Assad stürzte. Die Gruppierung und
mit ihr verbundene Personen stehen auch weiter auf der Terrorliste
der Vereinten Nationen und sind mit EU-Sanktionen belegt.
Die neue EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas sagte kürzlich, es gebe
berechtigte Bedenken hinsichtlich der Risiken konfessionell
motivierter Gewalt, des Wiederauflebens von Extremismus und eines
Regierungs-Vakuums. Die frühere estnische Regierungschefin wird bei
den Beratungen erstmals den Vorsitz haben.
Rebellenführer verspricht Entwaffnung aller Milizen
Der Anführer der HTS, Ahmed al-Scharaa, versprach indes eine
Maßnahme, die der Stabilisierung des vom Bürgerkrieg zerrissenen
Landes weiterhelfen könnte. Alle bewaffneten Gruppen und Milizen
würden entwaffnet, sagte er nach Angaben des oppositionellen
Fernsehsenders Syria TV. Priorität würden nun der Wiederaufbau sowie
die Versorgung der in Flüchtlingslagern lebenden Menschen mit
Wohnraum erhalten.
Al-Scharaa, der bis vor kurzem unter seinen Kampfnamen Mohammed
al-Dschulani aufgetreten war, wandte sich auch an seine ins Ausland
geflüchteten Landsleute. «Ich lade sie alle ein, nach Hause zu
kommen, sodass wir Syrien wieder ordentlich aufbauen können und von
ihren im Ausland gewonnenen Erfahrungen profitieren», zitierte ihn
Syria TV.
Setzt sich Israel auf dem Golan fest?
Das Machtvakuum nach dem Sturz Assads nutzte Israel, um mit seinen
Truppen über die Waffenstillstandslinie auf den Golanhöhen
vorzurücken. Die Führung in Jerusalem begründet das damit, dass
verhindert werden soll, dass bewaffnete Gruppen, die Israel feindlich
gesonnen sind, von dem Höhenplateau aus den jüdischen Staat
angreifen.
Das Gebiet diesseits der Waffenstillstandslinie, das bis zum See
Genezareth reicht, hatte Israel im Sechstagekrieg 1967 erobert und
1981 einseitig annektiert. Völkerrechtlich gehört es - zumindest ist
das die Auffassung der meisten Staaten, so auch Deutschlands - zu
Syrien. Die israelische Regierung billigte indes am Sonntag einen
Plan zur Investition von umgerechnet mehr als zehn Millionen Euro in
die besetzten Golanhöhen.
Der Plan von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu habe eine
Verdoppelung der dortigen Bevölkerung zum Ziel, teilte dessen Büro
mit. Gegenwärtig leben auf dem Felsplateau mehr als 50.000 Menschen,
etwas mehr als die Hälfte jüdische Israelis und der Rest Drusen und
Alawiten. Hintergrund der Entscheidung seien der Krieg und die «neue
Front» mit Syrien, hieß es in der Mitteilung.
Arabische Länder verurteilen israelischen Schritt
Saudi-Arabien verurteilte die Entscheidung Israels, die Besiedelung
der Golanhöhen auszuweiten. Das arabische Königreich sprach von einer
Verletzung des Völkerrechts und forderten die internationale
Gemeinschaft dazu auf, Israels Vorgehen nicht zu tolerieren. Weiter
hieß es in der Erklärung der Außenministerien in der Hauptstadt Riad,
bei den Golanhöhen handle es sich um besetztes arabisches und
syrisches Land. Auch das Golfemirat Katar und die Vereinigten
Arabischen Emirate (VAE) verurteilten in Erklärungen ihrer
Außenministerien die israelische Entscheidung.
Netanjahu spricht mit Trump: kein Interesse an Konflikt
In einem Telefongespräch mit dem designierten US-Präsidenten Donald
Trump über die Lage in Syrien bekräftigte der israelische Premier
unterdessen erneut seine friedlichen Absichten. «Wir haben kein
Interesse an einem Konflikt mit Syrien», sagte Netanjahu laut einer
Mitteilung. Israels Vorgehen werde sich an den Gegebenheiten vor Ort
orientieren. Syrien sei jahrzehntelang ein «aktiver Feindstaat»
gewesen und habe Israel wiederholt angegriffen.
Das Bürgerkriegsland habe zudem anderen erlaubt, Israel von seinem
Territorium aus anzugreifen. Auch habe Syrien dem Iran erlaubt, die
Schiitenmiliz Hisbollah im Libanon über sein Territorium zu
bewaffnen. «Um sicherzustellen, dass sich dies nicht wiederholt,
haben wir in den letzten Tagen eine Reihe intensiver Maßnahmen
ergriffen», sagte Netanjahu auch mit Blick auf die Bombardierung
strategischer militärischer Einrichtungen im Nachbarland.
Kiew will mit Lebensmitteln helfen
Die Ukraine ist derweil nach den Worten von Präsident Wolodymyr
Selenskyj zu humanitärer Hilfe für Syrien bereit. In Absprache mit
seiner Regierung sei Nahrungsmittelhilfe aus dem Programm «Grain from
Ukraine» erörtert worden, um der Bevölkerung Syriens zu helfen, sagte
Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache. Konkret müsse nun mit
Vertretern Syriens die Logistik abgesprochen werden. «Wir werden
diese Region auf jeden Fall unterstützen, damit die Ruhe dort zu
einem Stützpfeiler für unsere Bewegung hin zu einem echten Frieden
werden kann.»
Das 2022 ins Leben gerufenen humanitäre Programm sieht vor, dass
Geberstaaten und andere Organisationen landwirtschaftliche Produkte
direkt von ukrainischen Produzenten kaufen und in Länder verschicken,
die am Rande einer Hungersnot stehen - vor allem in Afrika und
Asien.
Viele Tote nach israelischem Angriff in Gaza
Bei einem israelischen Angriff auf eine ehemalige Schule im
nördlichen Gazastreifen sind nach Angaben des von der islamistischen
Hamas kontrollierten Zivilschutzes mindestens 40 Menschen getötet
worden. Das Gebäude in der Stadt Beit Hanun habe als Unterkunft für
vom Krieg vertriebene Menschen gedient, sagte ein Sprecher. Viele der
Opfer seien verbrannt. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig
überprüfen.
Das israelische Militär teilte auf seinem Telegram-Kanal mit, dass es
in Beit Hanun eine Ansammlung von Hamas-Kämpfern gezielt angegriffen
habe. Dutzende von Terroristen seien aus der Luft und bei
Bodenoperationen getötet worden. Auch diese Angaben ließen sich nicht
unabhängig überprüfen.
Auslöser des Gaza-Kriegs war das Massaker palästinensischer
Terroristen aus dem Küstengebiet am 7. Oktober vergangenen Jahres in
Israel mit 1.200 Toten und rund 250 Verschleppten. Seither kämpft
Israel gegen die islamistische Hamas in Gaza, wo nach
palästinensischen Angaben vom Sonntag bisher 44.976 Menschen getötet
wurden. Bei den Zahlen wird allerdings nicht zwischen Kämpfern und
Zivilisten unterschieden.
Israel will alle Geiseln zurückholen
Bei Netanjahus Gespräch mit Trump sei es auch um die Bemühungen
gegangen, eine Freilassung der israelischen Geiseln zu erreichen, die
sich noch in der Gewalt der islamistischen Hamas befinden. «Wir
werden uns weiterhin unermüdlich dafür einsetzen, dass alle unsere
Geiseln, die lebenden und die verstorbenen, nach Hause zurückkehren»,
bekräftigte der israelische Premier. Rund 100 Geiseln - darunter auch
Leichen - werden nach israelischen Angaben noch von der Hamas
festgehalten.