Düstere Aussichten für Ukraine? Europäer tagen mit Selenskyj

19.12.2024 06:53

Kurz vor Weihnachten treffen sich führende Vertreter europäischer
Nato-Staaten noch einmal mit den ukrainischen Präsidenten Selenskyj.
Geht es auch um mögliche Pläne Donald Trumps?

Brüssel (dpa) - Spitzenvertreter europäischer Nato-Staaten haben rund
einen Monat vor Donald Trumps Amtsantritt als US-Präsident
vertrauliche Gespräche über die schwierige Lage der Ukraine und
weitere Unterstützungsmöglichkeiten geführt. An dem von
Nato-Generalsekretär Mark Rutte organisierten Treffen in Brüssel
nahmen nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur am späten
Mittwochabend Bundeskanzler Olaf Scholz und die Staats- und
Regierungschefs von Polen, Italien, Dänemark und den Niederlanden
teil.

Zudem waren der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, die
Außenminister aus Frankreich und Großbritannien sowie
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident
António Costa dabei. Selenskyj soll an diesem Donnerstag auch als
Gast an einem EU-Gipfeltreffen teilnehmen.

Zum Verlauf der Gespräche und zu möglichen Ergebnissen wurden in der
Nacht zunächst keine näheren Angaben gemacht. Selenskyj und andere
Teilnehmer wollen allerdings am Donnerstag beim EU-Gipfel
Pressekonferenzen geben.

Europäer wollen Kiew in starke Verhandlungsposition bringen

Hintergrund des informellen Treffens in Ruttes Brüsseler Residenz
waren die schwierige militärische Lage für die ukrainischen
Streitkräfte im Osten des Landes und das Szenario, dass Trump als
US-Präsident versuchen könnte, die Ukraine und Russland zu
Verhandlungen zu drängen. In Kiew wird befürchtet, dass er der
Ukraine etwa androhen könnte, im Fall einer Weigerung die
Militärhilfe einzustellen. Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin
wiederum könnte er drohen, die Militärhilfe für Kiew noch einmal
auszubauen, falls der Kremlchef sich Verhandlungen verweigern sollte.

Für die europäischen Nato-Staaten stellt sich deswegen die Frage, wie
die Ukraine in die Lage versetzt werden kann, mögliche
Friedensverhandlungen mit Russland aus einer Position der Stärke
heraus zu führen. Im Gespräch sind in diesem Zusammenhang etwa neue
Waffenlieferungen, aber auch die Entsendung von Friedenstruppen zur
Absicherung einer möglichen Waffenruhe. Selenskyj sagte am
Mittwochabend vor den Gesprächen, kurzfristig benötige die Ukraine
vor allem weitere Flugabwehrsysteme. Zudem gehe es um
Sicherheitsgarantien «sowohl für heute als auch für morgen».

Rutte warb vor dem Treffen ebenfalls für weitere Unterstützung und
warnte vor großen öffentlichen Debatten über einen möglichen Deal
zwischen der Ukraine und Russland. «Wenn wir jetzt untereinander
diskutieren, wie ein solches Abkommen aussehen könnte, machen wir es
den Russen einfach. Sie sitzen entspannt in ihren Sesseln, hören
unseren Diskussionen zu, rauchen genüsslich eine Zigarre und sehen
sich das alles im Fernsehen an», sagte er. «Das halte ich nicht für
hilfreich.»

Rutte fügte hinzu, dass es in Demokratien natürlich unvermeidlich
sei, dass man all diese Dinge offen diskutiere. Aus seiner Sicht wäre
es aber klug, das «etwas einzudämmen» und sich auf das Wesentliche zu

konzentrieren - also Selenskyj und Ukraine so stark zu machen, dass
sie Gespräche mit den Russen aufnehmen könnten, wenn sie selbst das
für richtig hielten.

Macron und Starmer fehlen bei Treffen

Der französische Präsident Emmanuel Macron, der sich zuletzt immer
wieder offen für eine Entsendung von Truppen gezeigt hatte, nahm
nicht an dem Treffen in Ruttes Residenz teil - obwohl er noch am
frühen Abend für einen EU-Westbalkan-Gipfel in Brüssel gewesen war
und sich dann auch noch bilateral mit Selenskyj getroffen hatte. Als
Begründung wurde genannt, dass Macron an diesem Donnerstag die vom
Zyklon «Chido» verwüstete Insel Mayotte besuchen will, ein
französisches Überseegebiet im Indischen Ozean.

Macron ließ sich wie auch der britische Premierminister Keir Starmer
von seinem Außenminister vertreten. Die beiden einzigen europäischen
Nato-Staaten mit Atomwaffen waren damit nicht auf höchster Ebene
vertreten. 

Ukraine weiter unter Druck an der Front

An der Front in der Ukraine stehen die Truppen des Landes weiterhin
unter Druck. Dem Lagebericht des Generalstabs zufolge gab es im
Tagesverlauf mehr als 200 Zusammenstöße zwischen russischen
Angreifern und ukrainischen Verteidigern. Allein 55 davon Attacken
führten die Russen demnach im eigenen Gebiet Kursk. In den
vergangenen Tagen wurden dabei Berichten zufolge auch viele
nordkoreanische Soldaten eingesetzt.

Ein weiterer Schwerpunkt ist der Raum Pokrowsk im ostukrainischen
Gebiet Donezk. Im südlich davon gelegenen Kurachowe halten die
Ukrainer nur noch einen kleinen Teil der Stadt. Möglicherweise werden
sie Kurachowe in den nächsten Tagen aufgeben müssen, wenn sie nicht
in einen Kessel geraten wollen. Der Militärblog «DeepState» meldete,

dass russische Truppen die Ortschaft Trudowe besetzten und auch in
der Region Charkiw vorrückten.

Ein russischer Raketenangriff im südostukrainischen Krywyj Rih legte
nach Angaben der örtlichen Militärverwaltung die Stromversorgung in
Teilen der Großstadt lahm und beschädigte sowohl Hochhäuser als auch

ein Krankenhaus. Tote gab es demnach nicht. Im südrussischen Rostow
wiederum habe ein ukrainischer Drohnenangriff eine Ölraffinerie in
Brand gesetzt, teilte der Gouverneur der Region auf Telegram mit. Die
Angaben beider Kriegsparteien ließen sich zunächst nicht überprüfen
.

Kritik an Tötung von russischem General aus Washington

Dass die Ukraine sich künftig bei ihren Aktionen nicht mehr auf
Rückendeckung aus den USA verlassen kann, wurde nach dem Mordanschlag
auf den russischen General Igor Kirillow in Moskau deutlich. Der von
Trump nominierte Sondergesandte für die Ukraine und Russland, Keith
Kellogg, äußerte sich kritisch dazu: «Es gibt Regeln für die
Kriegsführung, und es gibt bestimmte Dinge, die man einfach nicht tun
sollte», sagte Kellogg dem US-Sender Fox Business. Während ein
General auf dem Schlachtfeld ein legitimes Ziel sei, überschreite ein
gezielter Angriff auf «Nichtkombattanten» - also Personen außerhalb
aktiver Gefechte - die Regeln. «Wenn man (...) Generäle in ihrer
Heimatstadt tötet, dann hat man das irgendwie ausgedehnt», sagte
Kellogg.

Das wird am Donnerstag wichtig

Neben dem EU-Gipfel in Brüssel spielt die Ukraine am Donnerstag auch
in Moskau eine wichtige Rolle. Dort tritt Kremlchef Putin zu seiner
traditionellen Jahrespressekonferenz an, die er diesmal erneut mit
einer Bürgersprechstunde kombinieren wird. In der
Marathonveranstaltung wird er voraussichtlich einmal mehr die
Sichtweise des Kremls auf den Krieg darlegen.