Warum das Urteil gegen Le Pen so einschneidend ist Von Michael Evers und Lena Klimkeit, dpa

31.03.2025 17:43

Marine Le Pen ist äußerst beliebt in Frankreich - und ein
Schreckgespenst für moderate politische Kräfte in ganz Europa. Nun
durchkreuzt ein Urteil ihre Pläne für die Präsidentschaftskandidatur.


Paris (dpa) - Die Verurteilung der beliebten rechtsnationalen
französischen Politikerin Marine Le Pen wegen Veruntreuung zu zwei
Jahren Haft per Fußfessel und ihr voraussichtlicher Ausschluss von
der Präsidentschaftswahl trifft Frankreich wie ein Donnerschlag. Zwar
mögen Gegner von Le Pens rechter Partei frohlocken. Doch das
beispiellose Urteil dürfte für die ohnehin schon in der Krise
steckende französische Politik schwere Folgen haben. 

Was bedeutet das Urteil für Le Pen?

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig und Le Pen wird Berufung
einlegen, was wahrscheinlich einen jahrelangen Gang durch die
Instanzen bedeuten wird. Unabhängig davon ist ihr Ruf durch den
Schuldspruch und die empfindliche Strafe ernsthaft beschädigt.
Schwerlich wird Le Pen den Politikern anderer Parteien so ungebremst
wie bisher die Leviten lesen können. Als Abgeordnete wird Le Pen bis
zum Ende der Wahlperiode weiter im Parlament sitzen. Ihre politische
Karriere scheint aber vorerst auf Eis gelegt. 

Hat Le Pen keine Chance mehr auf die Präsidentschaftskandidatur?

Die 56-Jährige strebt seit Jahren in den Élyséepalast, den Amtssitz
der französischen Präsidenten in Paris: Unmittelbar und am härtesten

trifft sie daher vorerst die mit sofortiger Wirkung verhängte Strafe,
nicht mehr für politische Ämter bei Wahlen antreten zu können. Die
Strafe ist bei Korruptionsprozessen in Frankreich nicht unüblich.
Aber sie durchkreuzt wahrscheinlich Le Pens Pläne, Kandidatin bei der
kommenden Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2027 zu werden. Denn es
ist fraglich, ob bis dahin ein rechtskräftiges Urteil höherer Instanz
vorliegen wird. Und ohnehin gibt es für die Präsidentschaftswahl
einen langen Vorlauf, der spätestens in einem Jahr beginnt. 

Wie werden Le Pens Anhänger auf das Urteil reagieren? 

Das ist noch unklar. Das Urteil könnte selbst im Kreis ihrer
Sympathisanten ihren Ruf beschädigen - zumal ihre Partei
Rassemblement National (RN) für Wahlsiege auch auf die Stimmen der
gemäßigten konservativen Mitte setzt. Aber auch das Gegenteil könnte

eintreten: Ihre Anhänger könnten sie als vermeintliches Justizopfer
noch mehr verehren und ihrer Partei neuen Aufwind bescheren. 

Was bedeutet das Urteil für die politische Stimmung in Frankreich?

Manch ein politischer Gegner dürfte sich angesichts des
weitreichenden Strafmaßes die Hände reiben - doch so einfach ist es
nicht. Selbst moderate Politiker hatten davor gewarnt, Le Pen mit
einem Ämterverbot zu belegen. Die Staatsanwaltschaft hatte
argumentiert, dass gleiches Recht für alle gelten solle. Doch nun
wird die beliebteste Politikerin aus dem Verkehr gezogen - und damit
eine, deren Anhänger immer wieder den Rechtsstaat und die
Unabhängigkeit der Justiz infrage stellen. 

Im November hatte Gérald Darmanin, heutiger Justizminister, das
Szenario, dass Le Pen mit einem Ämterverbot belegt werden könnte, als
«zutiefst schockierend» bezeichnet. «Der Kampf gegen Madame Le Pen
findet an den Wahlurnen statt, nicht anderswo.» Er fügte hinzu:
«Lasst uns keine Angst vor der Demokratie haben und es vermeiden, den
Unterschied zwischen den «Eliten» und der großen Mehrheit unserer
Mitbürger noch weiter zu vertiefen.» 

Wird Le Pen jetzt versuchen, die Regierung zu stürzen?

Zuletzt hatte Le Pen auf einen gemäßigten Kurs gesetzt:
Verantwortungsbewusstsein statt Krawall, lautete die Devise meist bei
den Debatten im Parlament, in dem es die Minderheitsregierung des
Zentrumspolitiker François Bayrou ohnehin schon schwer hat. Le Pen
verzichtete bislang darauf, die Misstrauensvoten des linken Lagers
zum Sturz Bayrous zu unterstützen. Ob sich das nun ändert und die
Partei auf ein Anheizen der politischen Krise setzt, muss sich
zeigen. Davon wird auch abhängen, ob Präsident Emmanuel Macron nun in
schwieriges Fahrwasser gerät. 

Was Le Pens Partei von dem Urteil hält, machte der Vorsitzende Jordan
Bardella umgehend klar: Er bezeichnete es als Todesstoß für
Frankreichs Demokratie.

Könnte das Urteil auch politische Gräben in Europa vertiefen? 

Das Risiko, das Darmanin aufgezeigt hat, gilt nicht nur für
Frankreich - sondern auch für Europa insgesamt. Das
rechtspopulistische Lager dürfte den Urteilsspruch ausschlachten,
indem es versucht, Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz in
demokratischen Staaten wie Frankreich zu befeuern. 

Und Reaktionen folgten prompt: Italiens Vize-Regierungschef und Chef
der Rechtspartei Lega, Matteo Salvini, sprach von einer
«Kriegserklärung», mit der man die frühere Präsidentschaftskandid
atin
aus dem politischen Leben ausschließen wolle. Der ungarische
Ministerpräsident Viktor Orban, der sich zuletzt deutlich an Le Pen
angenähert hatte, bekundete mit einem «Je suis Marine» («Ich bin
Marine») auf X Solidarität mit der Rechtspolitikerin - als wäre diese

Opfer einer von politischen Gegnern kontrollierten Justiz geworden. 

Und auch über Europa hinaus sorgte das Urteil für Reaktionen. Der
Kreml in Moskau kritisierte es als Verstoß gegen demokratische
Regeln. «Unsere Beobachtungen in den europäischen Hauptstädten
zeigen, dass man keineswegs zurückhaltend ist, im politischen Prozess
die Grenzen der Demokratie zu überschreiten», sagte Kremlsprecher
Dmitri Peskow in Moskau. 

Nicht ausgeschlossen, dass auch die höchste Ebene in den USA darauf
reagiert. US-Vizepräsident J.D. Vance hat den eigentlich mit den USA
verbündeten Staaten in Europa vorgeworfen, Meinungsfreiheit und
gemeinsame demokratische Grundwerte einzuschränken. US-Präsident
Donald Trump hat das Vorgehen der Justiz gegen ihn immer wieder als
«Hexenjagd» bezeichnet und die politischen Gegner der Demokraten
bezichtigt, ihn so als Präsidenten verhindern zu wollen - wenn es
nicht an den Wahlurnen geht. 

Welche Chancen werden dem jungen Parteichef Bardella eingeräumt?

Seit November 2022 ist Bardella Chef des Rassemblement National.
Damit endete eine Ära: Denn der Name Le Pen steckt in der Identität
der Partei - und dem Vorgänger Front National. Der kürzlich
verstorbene Vater von Marine Le Pen, Jean-Marie Le Pen, hatte die
rechtsextremistische Front National gegründet. Seine Tochter benannte
die Partei 2018 um - im Bemühen, ihr ein moderateres Gesicht zu
geben. Der Wechsel an der Parteispitze galt als Fortsetzung dieser
Strategie. 

Erwartet wird, dass Bardella sich nun in Stellung für die Kandidatur
2027 bringt. Erstmals hatte Le Pen am Wochenende in einem Interview
bekräftigt, dass Bardella das Zeug dazu habe, Präsident zu werden.
Doch es ist fraglich, ob Le Pen so einfach zu ersetzen ist. In der
heutigen Stimmungslage würde sie als Favoritin in eine
Präsidentenwahl ziehen. Noch dazu hat der 29-Jährige deutlich weniger
politische Erfahrung als sie, auch wenn der eloquente Jungpolitiker
in den Medien omnipräsent ist. 

Eine klare Prognose darüber zu treffen, was in zwei Jahren bei einer
Präsidentenwahl in Frankreich passiert, ist jedoch unmöglich - das
Land ist für spontane Entwicklungen bekannt. Das hatte nicht zuletzt
der jetzige Präsident Emmanuel Macron gezeigt, der innerhalb
kürzester Zeit erstaunliche Popularitätswerte erreichte und 2017
Präsident wurde, obwohl ihn drei Jahre vor der Wahl außerhalb der
Pariser Polit-Blase kaum jemand kannte.