Warum nicht einmal Le Pens Gegner über das Urteil jubeln Von Michael Evers und Lena Klimkeit, dpa
31.03.2025 17:56
Marine Le Pen ist äußerst beliebt in Frankreich - und ein
Schreckgespenst für moderate Kräfte in ganz Europa. Nun durchkreuzt
ein Urteil ihre Pläne für die Präsidentschaftskandidatur.
Paris (dpa) - Die in Frankreich äußerst beliebte rechtsnationale
Politikerin Marine Le Pen soll jahrelang nicht bei Wahlen antreten
können - das Urteil trifft das Land wie ein Donnerschlag. Auch die
politischen Gegner der Frau, die als mögliche Favoritin bei der
Präsidentschaftswahl 2027 gehandelt wurde, jubeln nicht. Denn das
beispiellose Urteil dürfte für die ohnehin schon in der Krise
steckende französische Politik und darüber hinaus weitreichende
Folgen haben.
Welche Strafen hat das Gericht verhängt?
Le Pen wurde wegen der Veruntreuung öffentlicher Gelder schuldig
gesprochen. Sie darf deswegen fünf Jahre lang nicht mehr bei Wahlen
antreten. Das Ämterverbot tritt sofort in Kraft. Außerdem wurden eine
Geldstrafe in Höhe von 100.000 Euro sowie eine vierjährige Haftstrafe
verhängt, von denen zwei auf Bewährung ausgesetzt sind. Für die
anderen beiden ordnete das Gericht eine elektronische Fußfessel an.
Sobald das Urteil rechtskräftig ist, dürfte klarer werden, wie die
Strafe im Einzelnen vollstreckt wird.
Was bedeutet das Urteil für Le Pen?
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Le Pens Anwalt hat Berufung
angekündigt, was einen jahrelangen Gang durch die Instanzen bedeuten
dürfte. Die 56-Jährige strebt seit Jahren in den Élyséepalast, den
Amtssitz der französischen Präsidenten in Paris. Unmittelbar und am
härtesten trifft sie daher, dass sie ab sofort und für die Dauer von
fünf Jahren nicht mehr für politische Ämter bei Wahlen antreten
kann.
Die Strafe ist bei Korruptionsprozessen in Frankreich nicht unüblich.
Aber sie durchkreuzt wahrscheinlich Le Pens Pläne, Kandidatin bei der
kommenden Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2027 zu werden. Denn es
ist fraglich, ob bis dahin ein rechtskräftiges Urteil höherer Instanz
vorliegen wird. Und ohnehin gibt es für die Präsidentschaftswahl
einen langen Vorlauf, der spätestens in einem Jahr beginnt. Bei den
vergangenen beiden Wahlen schaffte sie es in die Stichwahlen gegen
Amtsinhaber Emmanuel Macron.
Wie werden Le Pens Anhänger auf das Urteil reagieren?
Das ist noch unklar. Das Urteil könnte selbst im Kreis ihrer
Sympathisanten ihren Ruf beschädigen - zumal ihre Partei
Rassemblement National (RN) für Wahlsiege auch auf die Stimmen der
gemäßigten konservativen Mitte setzt. Aber auch das Gegenteil könnte
eintreten: Ihre Anhänger könnten sie als vermeintliches Justizopfer
noch mehr verehren und ihrer Partei neuen Aufwind bescheren.
Klar ist: Schwerlich wird Le Pen den Politikern anderer Parteien so
ungebremst wie bisher die Leviten lesen können. Als Abgeordnete wird
Le Pen bis zum Ende der Wahlperiode weiter im Parlament sitzen. Ihre
politische Karriere scheint aber vorerst auf Eis gelegt.
Was bedeutet das Urteil für die politische Stimmung in Frankreich?
Manch ein politischer Gegner dürfte sich angesichts des
weitreichenden Strafmaßes die Hände reiben - doch so einfach ist es
nicht. Selbst moderate Politiker warnten davor, Le Pen mit einem
Ämterverbot zu belegen. Die Staatsanwaltschaft argumentierte, dass
gleiches Recht für alle gelten solle. Doch nun wird die beliebteste
Politikerin aus dem Verkehr gezogen - und damit eine, deren Anhänger
immer wieder den Rechtsstaat und die Unabhängigkeit der Justiz
infrage stellen.
Im November hatte Gérald Darmanin, heutiger Justizminister, das
Szenario, dass Le Pen mit einem Ämterverbot belegt werden könnte, als
«zutiefst schockierend» bezeichnet. «Der Kampf gegen Madame Le Pen
findet an den Wahlurnen statt, nicht anderswo.» Er fügte hinzu:
«Lasst uns keine Angst vor der Demokratie haben und es vermeiden, den
Unterschied zwischen den «Eliten» und der großen Mehrheit unserer
Mitbürger noch weiter zu vertiefen.»
Die Reaktionen aus den anderen Lagern nach dem Urteil gingen in
dieselbe Richtung. «Die Entscheidung über die Absetzung eines
Politikers sollte dem Volk obliegen», sagte der Linkenpolitiker
Jean-Luc Mélenchon. In einer Demokratie sei es nicht gesund, wenn
einer gewählten Politikerin die Kandidatur für eine Wahl untersagt
werde, sagte der Fraktionschef der konservativen Républicains,
Laurent Wauquiez
Wird Le Pen jetzt versuchen, die Regierung zu stürzen?
Zuletzt setzte Le Pen auf einen gemäßigten Kurs:
Verantwortungsbewusstsein statt Krawall lautete die Devise meist bei
den Debatten im Parlament, in dem es die Minderheitsregierung des
Zentrumspolitikers François Bayrou ohnehin schon schwer hat.
Le Pen verzichtete darauf, die Misstrauensvoten des linken Lagers zum
Sturz Bayrous zu unterstützen. Ob sich das nun ändert und die Partei
auf ein Anheizen der politischen Krise setzt, muss sich zeigen. Davon
wird auch abhängen, ob Präsident Emmanuel Macron in schwieriges
Fahrwasser gerät.
Was Le Pens Partei von dem Urteil hält, machte der Vorsitzende Jordan
Bardella umgehend klar: Er bezeichnete es als Todesstoß für
Frankreichs Demokratie.
Könnte das Urteil auch politische Gräben in Europa vertiefen?
Durchaus. Das rechtspopulistische Lager dürfte den Urteilsspruch
ausschlachten, indem es versucht, Zweifel an der Unabhängigkeit der
Justiz in demokratischen Staaten wie Frankreich zu befeuern.
Reaktionen folgten prompt: Italiens Vize-Regierungschef und Chef der
Rechtspartei Lega, Matteo Salvini, sprach von einer
«Kriegserklärung», mit der man die frühere Präsidentschaftskandid
atin
aus dem politischen Leben ausschließen wolle. Der ungarische
Ministerpräsident Viktor Orban, der sich zuletzt deutlich an Le Pen
angenähert hatte, bekundete mit einem «Je suis Marine» («Ich bin
Marine») auf X Solidarität mit der Rechtspolitikerin - als wäre diese
Opfer einer von politischen Gegnern kontrollierten Justiz geworden.
Auch über Europa hinaus sorgte das Urteil für Reaktionen. Der Kreml
in Moskau kritisierte es als Verstoß gegen demokratische Regeln.
«Unsere Beobachtungen in den europäischen Hauptstädten zeigen, dass
man keineswegs zurückhaltend ist, im politischen Prozess die Grenzen
der Demokratie zu überschreiten», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow
in Moskau.
Nicht ausgeschlossen, dass auch die höchste Ebene in den USA darauf
reagiert. US-Vizepräsident J.D. Vance hat den eigentlich verbündeten
Staaten in Europa längst vorgeworfen, Meinungsfreiheit und gemeinsame
demokratische Grundwerte einzuschränken. Das Vorgehen der Justiz
gegen Donald Trump vor dessen zweiter Amtszeit stellt der
US-Präsident auch heute noch als «Hexenjagd» dar. Er bezichtigt seine
politischen Gegner der Demokraten, so versucht zu haben, ihn als
Präsidenten zu verhindern - wenn es nicht an den Wahlurnen geht.
Welche Chancen werden dem jungen Parteichef Bardella eingeräumt?
Seit November 2022 ist Bardella Chef des Rassemblement National.
Damit endete eine Ära: Denn der Name Le Pen steckt in der Identität
der Partei - und dem Vorgänger Front National. Der kürzlich
verstorbene Vater von Marine Le Pen, Jean-Marie Le Pen, hatte die
rechtsextremistische Front National gegründet. Seine Tochter benannte
die Partei 2018 um - im Bemühen, ihr ein moderateres Gesicht zu
geben. Der Wechsel an der Parteispitze galt als Fortsetzung dieser
Strategie.
Erwartet wird, dass Bardella sich nun in Stellung für die Kandidatur
2027 bringt. Erstmals hatte Le Pen am Wochenende in einem Interview
bekräftigt, dass Bardella das Zeug dazu habe, Präsident zu werden.
Doch es ist fraglich, ob Le Pen so einfach zu ersetzen ist. In der
heutigen Stimmungslage würde sie als Favoritin in eine
Präsidentenwahl ziehen. Noch dazu hat der 29-Jährige deutlich weniger
politische Erfahrung als sie, auch wenn der eloquente Jungpolitiker
in den Medien omnipräsent ist.
Eine klare Prognose darüber zu treffen, was in zwei Jahren bei einer
Präsidentenwahl in Frankreich passiert, ist unmöglich. Das Land ist
für spontane Entwicklungen bekannt. Das hatte nicht zuletzt Macron
bewiesen, der innerhalb kürzester Zeit erstaunliche Popularitätswerte
erreichte und 2017 Präsident wurde, obwohl ihn drei Jahre vor der
Wahl außerhalb der Pariser Polit-Blase kaum jemand kannte.