Europäischer Gerichtshof (EuGH)
Rechtsprechungsorgan der Europäischen Union
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist gemeinsamer Gerichtshof und höchstes Gericht der Europäischen Union. Seine Urteile sind für alle Gerichte und alle Bürger in der EU bindend. Nationale Gesetze und Gerichtsurteile müssen der Rechtsprechung des EuGH angepasst werden.
1957 wurde der Europäische Gerichtshof (EuGH) als Rechtsprechungsorgan der Europäischen Gemeinschaften errichtet. Er hat seinen Sitz in Luxemburg. Der EuGH sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der EG-Verträge sowie der von den EU-Organen erlassenen Rechtsvorschriften. Der Gerichtshof entscheidet, ob in einem Einzelfall gegen EU-Recht verstoßen wurde ("Anwendung der Verträge"). Er entscheidet aber auch endgültig, wie strittige Texte in den Verträgen zu verstehen sind ("Auslegung der Verträge"). Der Gerichtshof gestaltet also europäisches Recht fort und bewahrt es zugleich.
Ein wichtiges Mittel dabei sind die Vorabentscheidungen: Wenn ein nationales Gericht in einem Prozess Europarecht beachten muss, das stets Vorrang vor nationalem Recht hat, kann es vom EuGH eine Vorabentscheidung verlangen; diese Entscheidung ist dann für das nationale Gericht bindend. Nationale Gerichte letzter Instanz sind sogar verpflichtet, beim EuGH Vorabentscheidungen einzuholen. So wird gewährleistet, dass Europarecht in allen EU-Ländern einheitlich ausgelegt wird. Der Gerichtshof wahrt auch die Grundrechte des Bürgers gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft, schützt ihn also gegen Missbrauch. (Zur Website des Europäischen Gerichtshofs)
Motor im Integrationsprozess
Der Europäische Gerichtshof spielte von Beginn seiner Tätigkeit an eine wichtige Rolle als Motor im Integrationsprozess: Durch seine Rechtsprechung trug er entscheidend dazu bei, die tragenden Grundsätze der Rechtsordnung der Europäischen Union verbindlich herauszuarbeiten.
Der EuGH setzt sich aus 27 Richtern zusammen, die von Generalanwälten unterstützt werden. Sowohl Richter als auch Generalanwälte werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen ernannt. Jedes Mitgliedsland der Union entsendet einen Richter für eine sechsjährige Amtszeit.
Der EuGH nimmt unterschiedliche Funktionen wahr, die in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten auf verschiedene Gerichtszweige verteilt sind:
- als „Verfassungsgericht“ entscheidet er bei Streitigkeiten zwischen den EU-Organen oder den Mitgliedstaaten und bei der Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Gesetzgebung der EU;
- als „Verwaltungsgericht“ überprüft er, ob die Verwaltungsvorschriften und das Verwaltungshandeln der Europäischen Kommission und der Behörden der Mitgliedstaaten mit dem EU-Recht vereinbar sind;
- als „Arbeits- und Sozialgericht“ entscheidet er bei Fragen, die die Freizügigkeit, die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer und die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Arbeitsleben betreffen;
- als „Strafgericht“ überprüft er die Bußgeld-Entscheidungen der Europäischen Kommission;
- als „Zivilgericht“ urteilt er bei Schadensersatzklagen und bei der Auslegung der Brüsseler Konvention über die Anerkennung und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen.
Der Europäische Gerichtshof kann von einem Mitgliedstaat, einem Organ der Europäischen Union sowie von unmittelbar und individuell betroffenen Bürgern und Unternehmen angerufen werden (Rechtsschutz).
Im Oktober 1988 wurde durch einen Ratsbeschluss ein Gericht erster Instanz geschaffen, das dem EuGH beigeordnet ist. Es befasst sich mit Klagen aus dem EU-Beamtenrecht, dem Wettbewerbsrecht, aus dem Bereich Kohle und Stahl sowie mit allen direkten Klagen von Unionsbürgern und Unternehmen gegen ein Gemeinschaftsorgan (mit Ausnahme von Klagen aus dem Antidumpingrecht).
Vertrag von Amsterdam, Vertrag von Nizza
Der Vertrag von Amsterdam brachte für den Europäischen Gerichtshof neue Zuständigkeiten. Die Asyl-, Flüchtlings- und Einwanderungspolitik wurde in den Rahmen des Gemeinschaftsrechts einbezogen. Die in diesen Bereichen ergangenen Rechtsakte unterliegen der Auslegung und Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof. In einem Zusatzprotokoll werden auch die Regelungen des Vertrags von Schengen in den rechtlichen Rahmen der Europäischen Union integriert.
Der Vertrag von Nizza brachte weitere Reformen, die darauf abzielen, die Effizienz des Gerichts zu steigern. Vor allem zu lange Wartezeiten sollen damit vermieden werden. Dem Gerichtshof wird größere Flexibilität ermöglicht, indem mehr Fragen in der Satzung des Gerichtshofs geregelt werden, die künftig vom Rat einstimmig auf Antrag des Gerichtshofs oder der Europäischen Kommission geändert werden kann. Bei der Genehmigung der Verfahrensordnungen des Gerichtshofs und des Gerichts erster Instanz wrude die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit eingeführt.
Wie bisher besteht der Gerichtshof aus einem Richter je Mitgliedstaat. Allerdings wird die "große Kammer", die mit elf Richtern besetzt ist sich im allgemeinen mit Rechtssachen befassen, die früher in einer Vollsitzung behandelt wurden.
Die einzelnen Klagearten
Klage wegen Vertragsverletzung:
In diesem Verfahren prüft der Gerichtshof, ob die Mitgliedstaaten ihren gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen nachgekommen sind. Der Anrufung des Gerichtshofes geht ein von der Kommission eingeleitetes Vorverfahren voraus, das dem Mitgliedstaat Gelegenheit gibt, sich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern. Wenn dieses Verfahren nicht zur Abstellung der Vertragsverletzung durch den Mitgliedstaat führt, kann eine Vertragsverletzungsklage beim Gerichtshof erhoben werden. Diese Klage kann entweder von der Kommission – dies ist in der Praxis der häufigste Fall – oder von einem anderen Mitgliedstaat erhoben werden. Stellt der Gerichtshof die behauptete Vertragsverletzung fest, so ist der betreffende Staat verpflichtet, sie unverzüglich abzustellen. Stellt der Gerichtshof nach einer erneuten Anrufung durch die Kommission fest, dass der betreffende Mitgliedstaat seinem Urteil nicht nachgekommen ist, so kann er ihm auf Antrag der Kommission die Zahlung eines Pauschalbetrags oder Zwangsgelds auferlegen.
Nichtigkeitsklage:
Mit der Nichtigkeitsklage beantragt der Kläger die Nichtigerklärung der Handlung eines Organs (Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen). Die Nichtigkeitsklage kann von den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen (Parlament, Rat, Kommission) oder von Einzelpersonen erhoben werden, an die eine Handlung gerichtet ist oder die davon unmittelbar und individuell betroffen sind.
Untätigkeitsklage:
In diesem Verfahren prüfen der Gerichtshof und das Gericht die Rechtmäßigkeit der Untätigkeit eines Gemeinschaftsorgans. Die Klage kann jedoch erst erhoben werden, nachdem das Organ zum Tätigwerden aufgefordert wurde. Wird festgestellt, dass die Unterlassung rechtwidrig war, obliegt es dem betreffenden Organ, die Untätigkeit durch geeignete Maßnahmen zu beenden.
Schadensersatzklage:
Auf diese Klage, mit der die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft geltend gemacht wird, hat das Gericht darüber zu entscheiden, ob die Gemeinschaft für Schäden aufzukommen hat, die ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit Bürgern oder Unternehmen zugefügt haben.
Rechtsmittel:
Schließlich können beim Gerichtshof auf Rechtsfragen beschränkte Rechtsmittel gegen Urteile des Gerichts erster Instanz eingelegt werden. Ist das Rechtsmittel zulässig und begründet, hebt der Gerichtshof die Entscheidung des Gerichts erster Instanz auf. Wenn die Rechtssache spruchreif ist, kann der Gerichtshof den Rechtsstreit entscheiden. Andernfalls muss er die Rechtssache an das Gericht zurückverweisen, das an die Rechtsmittelentscheidung gebunden ist.
Vorabentscheidungsersuchen:
Dem Vorabentscheidungsverfahren kommt im Gemeinschaftsrecht besondere Bedeutung zu. Der Gerichtshof ist zwar seinem Wesen nach der oberste Hüter des Rechts in der Gemeinschaft, nicht aber das einzige Gericht, das das Gemeinschaftsrecht anwendet. Diese Aufgabe obliegt insoweit auch den nationalen Gerichten, als die Durchführung des Gemeinschaftsrechts, die im Wesentlichen Sache der mitgliedstaatlichen Verwaltungsorgane ist, ihrer Kontrolle unterworfen bleibt und viele Bestimmungen der Verträge und des abgeleiteten Rechts (Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen) den Bürgern der Mitgliedstaaten unmittelbar Rechte verleihen, die die nationalen Gerichte zu gewährleisten haben.
Somit sind die Gerichte der Mitgliedstaaten ihrem Wesen nach die ersten Garanten des Gemeinschaftsrechts. Um eine wirksame und einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen und divergierende Auslegungen zu verhindern, können (und müssen mitunter) nationale Gerichte sich an den Gerichtshof wenden und ihn um eine Auslegung des Gemeinschaftsrechts bitten, um etwa die Vereinbarkeit ihrer nationalen Rechtsvorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht prüfen zu können.
Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens kann auch die Prüfung der Gültigkeit eines Gemeinschaftsrechtsakts sein. Der Gerichtshof antwortet nicht mit einem einfachen Gutachten, sondern durch Urteil oder mit Gründen versehenen Beschluss. Das nationale Gericht, an das das Urteil oder der Beschluss gerichtet ist, ist an die Auslegung des Gerichthofes gebunden. In gleicher Weise bindet das Urteil des Gerichtshofes andere nationale Gerichte, die mit demselben Problem befasst werden.
Das Vorabentscheidungsersuchen bietet ferner jedem Unionsbürger die Möglichkeit, den genauen Inhalt der ihn betreffenden Normen des Gemeinschaftsrechts feststellen zu lassen.
Zwar können nur nationale Gerichte den Gerichtshof mit einem solchen Ersuchen befassen, da es ihnen allein zukommt, seine Zweckdienlichkeit zu beurteilen, doch können im Verfahren vor dem Gerichtshof alle Beteiligten, d. h. die Mitgliedstaaten, die Parteien des Ausgangsverfahrens vor dem nationalen Gericht und vor allem die Kommission, Erklärungen abgeben.
Verschiedene tragende Grundsätze des Gemeinschaftsrechts sind auf diese Weise aufgrund von Vorabentscheidungsersuchen – zum Teil erstinstanzlicher Gerichte – vom Gerichtshof festgestellt worden.
Urteile des EuGH
Der EuGH hat im Laufe seiner Geschichte viele Urteile gefällt, die die europäische Integration in wichtigen Bereichen vorangetrieben und zur Entwicklung des Rechts der Europäischen Union beigetragen haben.
So hat ein EuGH-Urteil Studenten aus der Europäischen Union das Studium im EU-Ausland erheblich erleichtert. Früher kam es immer wieder vor, dass Universitäten von Studenten aus anderen EU-Mitgliedstaaten besondere Studien- oder Einschreibegebühren verlangten, die die Bürger des eigenen Landes nicht zahlen mussten. Seit 1985 ist es damit vorbei: Eine französische Studentin hatte vor einem belgischen Gericht geklagt, weil die belgische Universität, an der sie eingeschrieben war, von ihr höhere Studiengebühren verlangte als von ihren belgischen Kommilitonen. Das belgische Gericht ließ den Fall vom EuGH klären. Dieser entschied: Zusätzliche Studiengebühren für Studenten aus anderen EU-Staaten verstoßen gegen das Diskriminierungsverbot des EG-Vertrages. Von Bürgern aus anderen EU-Staaten dürfen nur die Gebühren und Abgaben verlangt werden, die Studenten aus dem jeweiligen Land auch zahlen müssen.
Mit dem Urteil wurde EU-weit der Grundsatz festgeschrieben, nach dem Studenten, die in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union studieren wollen, aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit beim Zugang zur Hochschule gegenüber den Studenten aus diesem Land nicht benachteiligt werden dürfen.
Auch im Bereich der Gleichberechtigung von Frauen und Männern (Frauen in der Europäischen Union) legte der EuGH wichtige Grundsätze fest. So zum Beispiel das Recht auf eine angemessene Entschädigung, falls eine Frau bei der Einstellung wegen ihres Geschlechts gegenüber einem Mann benachteiligt wird.
Heiße Diskussionen hat das „Bierurteil“ vom 12. März 1987 hervorgerufen. Anlass war eine Klage der Europäischen Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland, weil diese den Verkauf von Bier, das nicht nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut ist, untersagte. Der Bundesrepublik Deutschland wurde vorgeworfen, sie behindere den freien Handel innerhalb der Gemeinschaft. Die Richter des Europäischen Gerichtshofs entschieden, dass auch Bier, das nach anderen Rezepturen gebraut ist, auf dem deutschen Markt angeboten werden kann. Ähnlich erging es den Italienern mit ihrem Nationalgericht: Auch sie müssen nun solche Nudeln auf dem italienischen Markt dulden, die nicht aus Hartweizengrieß hergestellt sind - zum Beispiel deutsche Eiernudeln.
Wehrpflicht: Der Gerichtshof entscheidet im März 2003, dass die in Deutschland nur für Männer geltende Wehrpflicht nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt. Ein deutscher Student hatte argumentiert, er könne wegen der Wehrpflicht erst später mit seiner Berufsausbildung beginnen.
Grüner Strom: In einem Grundsatzurteil erlauben die EU-Richter im März 2001 die Bevorzugung von «Grünem Strom» aus Alternativenergien. Die Vergünstigung sei keine unerlaubte staatliche Beihilfe. Das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) bleibt damit unangetastet.
Tabakwerbeverbot: Die Bundesregierung bringt im Oktober 2000 in Luxemburg eine EU-Richtlinie gegen Tabakwerbung zu Fall - Argument: wirtschaftliche Nachteile. Dennoch sprechen sich zwei Jahre später die EU-Gesundheitsminister für ein Verbot aus.
Soldatinnen: Auch in Deutschland dürfen Frauen Dienst an der Waffe leisten, entscheidet im Januar 2000 der Gerichtshof. Rund zehn Monate später streicht der Bundestag das Verbot aus Artikel 12 a des Grundgesetzes. Die ersten Soldatinnen rücken im Januar 2001 in die Kasernen ein.
Bosmann-Urteil: Der EuGH bringt im Dezember 1995 das Transfersystem im europäischen bezahlten Fußball zu Fall. Nach dem so genannten Bosman-Urteil dürfen Spieler nach Ablauf ihres Vertrages ohne Ablösesumme ihren Verein wechseln und damit ihren Arbeitsplatz frei wählen. Zudem verbietet das Gericht die Beschränkung beim Einsatz ausländischer Spieler. Seitdem verdoppelte sich deren Anteil in deutschen Bundesligen.
Bananen-Import: Im Oktober 1994 bestätigt der EuGH die Bananenmarktverordnung der Gemeinschaft, in der Früchte aus früheren europäischen Kolonien vor billigeren «Dollarbananen» aus Lateinamerika geschützt werden. Bereits im Jahr zuvor war ein deutscher Antrag gegen die Einfuhrbeschränkungen gescheitert.