Subsidiarität

Öffentliche Aufgaben möglichst bürgernah regeln

Subsidiarität bedeutet, dass öffentliche Aufgaben möglichst bürgernah - zum Beispiel auf der Ebene der Kommunen oder der Bundesländer - geregelt werden sollen. Erst wenn ein bestimmtes Problem dort nicht gelöst werden kann, wird die Regelungskompetenz nach „oben“ abgegeben. Die EU soll sich nur um Dinge kümmern, die sie besser regeln kann als die Mitgliedsländer.

In Artikel 5 des EG-Vertrages heißt es: „In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“ Das Subsidiaritätsprinzip dient nicht nur der Erhaltung der Eigenständigkeit der EU-Staaten, es hilft auch, ein Stückchen „EU-Bürokratie“ abzubauen.

Die Europäische Kommission muss bei jeder Gesetzesinitiative nachweisen, dass sie die jeweilige Aufgabe besser lösen kann als die Regionen oder die Mitgliedstaaten. Der Vertrag von Amsterdam enthält im so genannten „Subsidiaritätsprotokoll“ rechtlich verbindliche Präzisierungen für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips. Damit das Handeln der Europäischen Union gerechtfertigt ist, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein:

- Die Ziele der Maßnahmen können nicht ausreichend durch die Mitgliedstaaten erreicht werden.
- Sie können daher besser durch Maßnahmen der Gemeinschaft erreicht werden.
Die Kommission muss künftig begründen, ob diese Voraussetzungen gegeben sind. Gleichzeitig wird klargestellt, dass Maßnahmen der Europäischen Union den Mitgliedstaaten so viel Raum lassen müssen wie möglich.

Das Subsidiaritätsprinzip sichert einer untergeordneten Behörde gegenüber einer ihr übergeordneten oder einer lokalen Behörde gegenüber der Zentralgewalt ein bestimmtes Maß an Unabhängigkeit. Es geht also um die Aufteilung von Zuständigkeiten zwischen verschiedenen Machtebenen, ein Prinzip, das die institutionelle Grundlage von Bundesstaaten bildet.

Im Rahmen der Gemeinschaft angewandt bedeutet das Subsidiaritätsprinzip, dass die Mitgliedstaaten die Zuständigkeiten behalten, die sie selbst am wirksamsten wahrnehmen können, und der Gemeinschaft die Befugnisse zukommen, die die Mitgliedstaaten nicht in befriedigender Weise ausüben können.

Nach Artikel 5 (Artikel 3 b) II EGV gelten für ein Tätigwerden der Gemeinschaft unter Anwendung des Subsidiaritätsprinzips drei Voraussetzungen:

- Es darf sich nicht um einen Bereich ausschließlicher Zuständigkeit der Gemeinschaft handeln.
- Die jeweiligen Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen können auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden.
- Die Maßnahmen können daher wegen ihres Umfangs oder wegen ihrer Wirkungen besser durch ein Tätigwerden seitens der Gemeinschaft verwirklicht werden.
Die Reichweite des Subsidiaritätsprinzips erschließt sich aus zwei Blickwinkeln: In Bereichen, in denen der Gemeinschaft durch den Vertrag eine - mit den Mitgliedstaaten geteilte - Zuständigkeit zugewiesen ist, wirkt das Subsidiaritätsprinzip als Maßgabe für die Wahrnehmung dieser Zuständigkeit (Kompetenzausübungsschranke). In Bereichen, in denen der Gemeinschaft der Vertrag keine Zuständigkeit zuweist, eröffnet auch das Subsidiaritätsprinzip keine zusätzlichen Kompetenzen (keine Kompetenzzuweisung).

Schwierigkeit der Abgrenzung
Das Subsidiaritätsprinzip gilt nur für Bereiche, die sich die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten teilen. Es gilt demnach nicht für die ausschließlichen Gemeinschaftszuständigkeiten und auch nicht für die ausschließlich nationalen Kompetenzen. Die Abgrenzung ist allerdings fließend, da sich z.B. die Zuständigkeitsbereiche der Gemeinschaft über Artikel 308 (235) EGV erweitern können, wenn ein Tätigwerden der Gemeinschaft zur Verwirklichung der Ziele des Vertrags erforderlich erscheint. Problematisch bleibt die Abgrenzung der ausschließlichen Kompetenz der Gemeinschaft insbesondere, weil diese in den Verträgen nicht durch Bezug auf bestimmte Sachgebiete, sondern durch eine Funktionsbeschreibung erfolgt.

So hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in einer Reihe von Entscheidungen aus den Verträgen bestimmte (dort nicht ausdrücklich normierte) Zuständigkeiten als ausschließliche entwickelt und anerkannt, ohne damit einen abschließenden Katalog solcher Zuständigkeiten festgelegt zu haben.

Das Fehlen klarer Trennungslinien für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips wird auch weiterhin verschiedene Auslegungen dieses Grundsatzes zur Folge haben. Gleichzeitig wird jedoch auch das Bestreben der Gemeinschaft deutlich, das Tätigwerden der Gemeinschaft auf die Ziele des Vertrags zu beschränken und die Entscheidungen über neue Maßnahmen so bürgernah wie möglich treffen zu lassen. Dieser Zusammenhang zwischen Subsidiaritätsprinzip und Bürgernähe wird auch durch die Präambel des EU- Vertrags besonders betont.

Die Adressaten des Subsidiaritätsprinzips
Das Subsidiaritätsprinzip richtet sich an alle Organe der Gemeinschaft. Praktische Bedeutung hat die Regelung insbesondere gegenüber Rat, Europäischem Parlament und Kommission. Auch die Rechtsprechung des EuGH ist an Art. 5 (Artikel 3 b) Abs. 2 EGV gebunden. Unionsbürger können aus dieser Vorschrift unmittelbar keine Rechte ableiten.

Gerichtliche Überprüfbarkeit
Das Subsidiaritätsprinzip nach Art. 5 (Artikel 3 b) Absatz 2 EGV ist grundsätzlich gerichtlich überprüfbar. Bei der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips kommt den Organen der Europäischen Union jedoch ein weiter Konkretisierungsspielraum zu, der vom EuGH zu respektieren ist. Allgemein kann gesagt werden, dass die Kontrolldichte des EuGH in dem Umfang zurückzunehmen ist, in dem die Mitgliedstaaten effektiv in die Entscheidung über Inhalt und Ausmaß der in Betracht gezogenen Maßnahme einbezogen wurden, die Beschäftigung mit dem Problem der Erforderlichkeit gründlich und interessengerecht war und die betroffenen Organe und Rechtsträger (auch unterhalb der Ebene der Mitgliedstaaten) ausführlich gehört wurden. Unter diesem Gesichtspunkt schlug das Europäische Parlament bereits 1990 die Einfügung eines Artikels 172 a EWGV vor, der dem Gerichtshof das Recht einräumen sollte zu überprüfen, ob ein Vorschlag die Grenzen der Gemeinschaftskompetenz überschreitet (die Befassung des Gerichtshofs soll nach der Annahme eines Rechtsakts, jedoch vor seiner Durchführung erfolgen und sowohl den Staaten als auch den Institutionen offen stehen).

In seinen Urteilen vom 12. November 1996 (Rs. C-84/94, Slg. I-5755) und vom 13. Mai 1997 (Rs. C-233/94, Slg. I-2405) stellte der EuGH klar, dass die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu den Umständen zählt, die von der Begründungspflicht gemäß Art. 253 (Artikel 190) EGV umfasst werden. Dieser Begründungspflicht wird bereits dann genügt, wenn das Prinzip nicht ausdrücklich in den Erwägungen zum Rechtsakt benannt wird, sich aber aus den Erwägungen insgesamt ergibt, dass es der Sache nach berücksichtigt worden ist.

Vertrag von Amsterdam
Ohne den Wortlaut der Subsidiaritätsregelung in Art. 5 (Artikel 3 b) Abs. 2 EGV geändert zu haben, ist durch den Vertrag von Amsterdam das «Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit» in das Europäische Vertragswerk eingefügt worden. Die bislang außervertraglich im Edinburgher Gesamtkonzept für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips (1992) vereinbarten Anwendungsregeln sind durch das Subsidiaritätsprotokoll somit in weitem Umfang gerichtlich überprüfbar geworden.

Das Subsidiaritätsprinzip in Artikel 5 (Artikel 3 b) Abs. 2 EGV unterscheidet in der Frage, wer für die Ausübung einer Kompetenz zuständig ist, lediglich zwischen der Ebene der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaftsebene. Dass aber «die Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft gemäß dem Subsidiaritätsprinzip nicht nur die Mitgliedstaaten betreffen, sondern auch deren Gebietskörperschaften, soweit diese nach nationalem Verfassungsrecht eigene gesetzgeberische Befugnisse besitzen», hat die - vom Amsterdamer Gipfel zur Kenntnis genommene - «Erklärung Deutschlands, Österreichs und Belgiens zur Subsidiarität» deutlich zum Ausdruck gebracht.